Die Schule des Lebens

Christina Hermanns

Eine neue Idee für die schwierige Zeit der Pubertät ist in Dinslaken erfolgreich erprobt worden. Um Schule zu haben, muss man nicht immer zur Schule gehen.

Jugendliche leben in einer Phase, in der ihr Innenleben in den Vordergrund rückt. Sie beschäftigen sich stark mit sich, sind von einer gewissen Egozentrik geprägt, sodass sie sich im Mittelpunkt des Weltgeschehens sehen. Auftreten und Aussehen ist ihnen besonders wichtig. »Wer bin ich?« ist eine zentrale Frage der Jugendlichen in dieser Zeit. Eine Notwendigkeit, sich mit irgendetwas anderem zu befassen als mit sich selbst, beispielsweise mit dem Unterrichtsstoff, scheint in weite Ferne gerückt.

Eine Lehrerin der Waldorfschule Dinslaken reagierte auf das Problem, die Schüler zu unterrichten mit den Worten: »Am besten ist die Schule für Neuntklässler, wenn sie keine Schule haben! Wenn wir sie doch für ein Jahr wegschicken könnten, sie würden ganz anders wiederkommen!«.

Gesagt, getan. Unter dem Titel »Vom Leben lernen« wurde ein neues Schulkonzept entworfen, das seit 2004 ein vierwöchiges, fest in den Lehrplan der neunten Klasse integriertes Entwicklungshilfeprojekt beinhaltet, das in ost-europäischen Schwellenländern durchgeführt wird. Meist handelt es sich um Renovierungsarbeiten, Sanierungsarbeiten, Abriss- und Rohbauarbeiten in sozialen Einrichtungen wie Heimen für Menschen mit Behinderungen oder Schulen. Die Schüler arbeiten in Kleingruppen, geführt von pädagogisch und handwerklich geschulten Betreuern.

Vor drei Jahren hörte ich zum ersten Mal von diesem Projekt und ergriff die Möglichkeit, die damalige neunte Klasse nach Rumänien zu begleiten und als Leiterin der Betongruppe aktiv mitzuarbeiten.

Dort erlebte ich die Schüler von einer Seite, die mir vorher unvorstellbar schien: Sie erschienen pünktlich zu ihren Aufgaben, zeigten sich verantwortungsbewusst, arbeiteten engagiert mit und waren vor allem teamfähig. Zurück in Deutschland entschied ich mich, die Voraussetzungen eines solchen Projekts zu untersuchen, die genauen Bedingungen für seine Durchführung festzustellen und mein Augenmerk auf jene Bereiche zu legen, in welchen Entwicklung stattfindet. Mein Ziel war es, eine wissenschaftliche Grundlage zu schaffen, die anderen Schulen das Potenzial eines solchen Projektes offenlegt. Ich entschied mich für einen qualitativen Forschungsansatz und verzichtete dabei bewusst auf Thesenbildung, um mich nicht von Vorannahmen leiten zu lassen und das Ergebnis zu beeinflussen. Ich setzte dabei den Fokus ganz auf das Erleben der Schüler.

Das Geld müssen die Jugendlichen selbst beschaffen

Trotz der Unterschiedlichkeit der Projekte, die jedes Jahr in anderen Einrichtungen durchgeführt werden, konnte ich wiederkehrende Voraussetzungen feststellen, an welche die Durchführung solcher Projekte geknüpft ist. Das Projekt sollte bereits ein Jahr vor der Durchführung damit beginnen, gemeinsam mit den Eltern und Schülern der neunten Klasse eine geeignete Aufgabe zu finden, bei der Schüler vier Wochen lang wirklich sinnvoll tätig sein können und nicht bloß irgendwie beschäftigt werden.

Die Schüler sollten hauptverantwortlich für die Finanzierung des Projektes sein, das heißt, für das Aufbringen von 20.000 bis 30.000 Euro, die für Material, Verpflegung und Anreise benötigt werden. Dabei sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt.

Neue Situationen, neue Sichtweisen

Tatsächlich erfuhr ich, wie wichtig es ist, die gewohnte Umgebung zu verlassen, einen Wechsel des Blickwinkels anzuregen und eine Situation zu erleben, die die Jugendlichen real fordert und sie spüren lässt, dass sie gebraucht werden. Wenn den Jugendlichen das Existenzielle ihrer Hilfeleistung deutlich wird, indem sie beispielsweise dazu beitragen, dass eine Schule renoviert wird und rumänische Schüler wieder eine Schule besuchen können, die sonst geschlossen würde, wird ihnen die Notwendigkeit ihres Einsatzes bewusst. Wenn sie in Gegenden gelangen, wo kein europäischer Standard herrscht, werden sie sich immer wieder mit Unvorhergesehenem konfrontiert sehen.

So gab es beispielsweise einen Tag in Rumänien, an dem sich die Betongruppe aufs Betongießen vorbereitet hat, es aber plötzlich im ganzen Dorf für unbestimmte Zeit kein Wasser gab, da es zu heiß war und die Wasserreserven aufgebraucht waren. Und so galt es, umzuplanen, und in dem Fall mit dem Bauen von Verschalungen weiterzumachen, bis wieder Wasser da war.

Es herrschen andere Verhältnisse, die den jungen Erwachsenen ermöglichen, sich selbst neu zu erleben als Mitgestalter der Projekte.

Ihre Ideen sind gefragt. Dabei haben sogenannte leistungsschwache Schüler die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten auf anderen als den schulischen Gebieten zu entdecken und ihre Mitschüler nehmen sie anders wahr. Die enge Verkettung von Gedanken, Tat und Ergebnis zu beobachten, befriedigt die Jugendlichen. Ihre Handlungen ziehen sichtbare Konsequenzen nach sich. Sie sehen am Ende jedes Tages, was sie erreicht haben. Das stärkt das Selbstgefühl.

Kompetenzen der Betreuer

Wesentlich ist, dass die Schüler von kompetenten Betreuern begleitet werden. Dazu gehören handwerkliches Knowhow, die Fähigkeit, Projekte zu planen und darüber hinaus die Fähigkeit, Freiheiten zu gewähren, den Schülern zu helfen, ihre Ideen selbstständig umzusetzen. Denn genau dadurch lernen sie: Indem sie planen und danach handeln und nicht Vorgegebenes ausführen, sondern selber denken. Wenn etwas schiefgeht, korrigiert die Sache.

Wichtig ist zudem, dass der Betreuer vom Projekt selbst überzeugt ist, denn seine Begeisterung ist die Basis für eine wohlwollende Stimmung vorab bei Eltern und Kollegen und motiviert vor allem auch die Schüler vor Ort. Ruhe, Einfühlungsvermögen und die Kompetenz, individuell auf Schüler einzugehen, sollte dieser besitzen, denn vielen Schülern fällt es in den ersten Wochen nicht leicht, so weit weg von zu Hause zu sein und mit ungewohnten Verhältnissen konfrontiert zu werden.

Wesentlich für das Vertrauen der Jugendlichen ist auch, dass die Betreuer, die sie bei der Planung in Deutschland unterstützt haben, sie auch vor Ort die ganze Zeit über begleiten. Sind diese Bedingungen erfüllt, ist eine vielschichtige Entwicklung bei den jungen Erwachsenen zu beobachten.

Kreativer und selbstständiger

Auf individuell-psychologischer Ebene verändert sich die Selbstwahrnehmung. Die psychischen, aber auch handwerklichen Herausforderungen geben den Jugendlichen die Möglichkeit, ihre eigenen Grenzen kennenzulernen, sie möglicherweise zu überwinden und ungeahnte Fähigkeiten und Qualitäten ihres Selbstes zu entdecken. Die Schüler lernen, Verantwortung für ihr eigenes Wohlergehen zu entwickeln, denn, wenn sie 24 Stunden täglich über vier Wochen von ihren Mitschülern umgeben sind, lernen sie, ihre Kräfte einzuteilen, sich Zeit für sich zu nehmen und sich auch mal zurückzuziehen.

Die Konfrontation mit anderen Lebensverhältnissen regt zudem an, das eigene Leben zu reflektieren und die eigene Lebensweise zu hinterfragen. Das eigenständige Planen und Durchführen von Projekten macht die Schüler selbstständiger und selbstbewusster. Auch ihre kognitiven Fähigkeiten wachsen. Wenn Schüler lernen, mit unvorhergesehenen Problemen umzugehen, wächst ihre Kreativität, Spontaneität und die Fähigkeit, zu improvisieren.

Auf dem Weg zum Eigenen

Schüler und Lehrer berichteten nach dem Projekt zudem von einer gesteigerten Konzentrations- und Aufnahmefähigkeit in der Schule. Dies zeigte sich unter anderem daran, dass sich die schulischen Leistungen verbesserten. Das könnte daran liegen, dass sie eher begreifen, warum es notwendig ist, zu Schule zu gehen. Zudem beinhaltet das Projekt den Aspekt der Willensschulung. Indem Projekte von Grund auf geplant und durchgeführt und Schwierigkeiten überwunden werden, lernen die Jugendlichen, auf sich zu vertrauen und das zu erreichen, was sie sich vornehmen. Auch konnte ich feststellen, dass sich die alltäglichen Probleme relativieren. Während sich Jugendliche in dem Alter normalerweise viel mit dem Thema »Sehen und Gesehen werden« beschäftigen, trägt das Projekt dazu bei, Oberflächlichkeit abzubauen. Eine Schülerin drückte dies folgendermaßen aus: »Es war vorher für mich die Hochzeit des Konsums und des Anpassens an Andere – und das Projekt hat mich auf den Teppich geholt: Es gibt viel wichtigere Dinge.«

Neben der individuellen und psychologischen Entwicklung haben die Schüler in dieser Zeit vor allem ihre sozialen Fähigkeiten ausgebaut. Die ständige Konfrontation mit ihren Mitschülern stellt die jungen Erwachsenen vor die Herausforderung, den Umgang miteinander zu lernen: Gegenseitige Rücksichtnahme, Kommunikation, Teamfähigkeit in Verbindung mit Verantwortungsbewusstsein für die Gruppe und das Projekt, Wertschätzung jedes Einzelnen und das Entdecken von Qualitäten der Mitschüler sind nötig.

Auch konnte ich feststellen, dass sich das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrern und Schülern verbesserte. Wenn Lehrer als Begleitpersonen mitfahren, haben sie die Möglichkeit, die Schüler von einer neuen Seite kennenzulernen und durch gemeinsames Arbeiten eine neue Vertrauensgrundlage zu schaffen.

»Ich bin wichtig«

Ein wesentlicher Bestandteil dieses Projektes ist also das Erleben von Gemeinschaft, ein Wir-Gefühl, eine Denkweise, die dem »Wir« entspricht und weg von dem die Jugendlichen so prägenden Egoismus führt. Darüberhinaus konnte ich Entwicklungsschübe im körperlichen, handwerklichen, kulturellen, ökonomischen und politischen Bereich feststellen.

Zentral ist allerdings das auf dieser Basis resultierende Ich-Erlebnis. Die erwähnten Lerndimensionen führen dazu, zu erleben: Ich bin wichtig. Auf mich kommt es an. Ich kann etwas bewirken. Die Kombination aus Arbeit, Erleben und Gutes tun führt zu einer Erkenntnis des Selbst. Die Jugendlichen wissen danach, wer sie sind, was sie bewirken können und wo sie im Leben stehen. Sie entwickeln sich zur Mündigkeit im philosophischen Sinn: Sie lernen, selbstbestimmt zu reagieren, eigenverantwortlich zu handeln und den Mut zu haben, sich ihres Verstandes zu bedienen. Das Projekt bildet die Grundlage für diese Erfahrung der Selbstwirksamkeit und damit die Erkenntnis der eigenen Fähigkeiten und des eigenen Potenzials.

Eine Schülerin drückte dies folgendermaßen aus: »Ich konnte meine Position neu entdecken. Das bin ich, hier stehe ich und dafür stehe ich. Man hat während des Projektes so viel Zeit, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Im Alltag geht es ganz viel darum, wie ziehe ich mich an, wer hat wen geküsst – doch wenn du dann aus dem Alltag herausgerissen wirst, verstehst du, dass es darum überhaupt nicht geht, gar nicht. Das Projekt bietet die Möglichkeit, sich selbst in einen größeren Kontext zu stellen. Das hat mich wesentlich verändert.« So leisten diese Schüler tatsächlich nicht nur Entwicklungshilfe für arme Menschen, sondern Entwicklungshilfe für sich selbst.

Zur Autorin: Christina Hermanns ist Studentin am Institut für Waldorfpädagogik in Witten Annen in den Bereichen Klassenlehrer, Heilpädagogik, Handwerk und bildende Kunst und Erlebnispädagogik. Kontakt: christina-hermanns93@web.de