Die Schule nach der Schule

Henning Köhler

Der Dokumentarfilmer Erwin Wagenhofer, dessen Produktion Alphabet – unbedingt anschauen! – zur Zeit Furore macht, sagt im österreichischen Magazin profil-wissen (3/13): »Nicht einmal mehr Musterschüler ertragen unser Schulsystem. Noch dramatischer aber ist, was mit Kindern passiert, die sich von vornherein nicht anpassen wollen. Ich habe einen Teil des Films nachträglich weggelassen, da er zu weit geführt hätte. Er handelt von sogenannten ADHS-Kindern. Das sind keine psychisch kranken Kinder mit Aufmerksamkeitsdefiziten, das sind hochintelligente Kinder, die zu Recht rebellieren.« Man wüsste gern, inwiefern die herausgeschnittene Passage »zu weit geführt hätte«. Das Interview lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: »Ich würde diese Kinder als Seismographen der Gesellschaft bezeichnen. Wir sollten uns fragen, warum sie so geworden sind. Und ob nicht wir dafür verantwortlich sind, weil wir ihnen die Lust am Leben und das Lebendige austreiben. Doch stattdessen werden sie mit Medikamenten ruhig gestellt.« Unerhebliche Meinung eines Regisseurs, der wissenschaftliche Beweise ignoriert? Irrtum. Die Existenz einer Krankheit namens ADHS ist nicht bewiesen.

Überhaupt müssen wir uns fragen, wie viele sogenannte Lern- oder Verhaltensstörungen erst in der Schule und durch sie entstehen. Die Kasernierung des Lernens unterbindet gesunde, also frei bejahte, eigenaktive, spielerische Lernprozesse. Letztere werden – welch grandioses Missverständnis! – in die ›lernfreie Zeit‹ verschoben. Dann fallen unsinnige Sätze wie: »Jakob will immer nur spielen, er muss aber langsam mal was lernen.« Ungebrochene Spielfreude als Defizit. »Bei der Bildung geht es längst nicht mehr darum, was das Beste für unsere Kinder ist«, bilanziert

Wagenhofer. Er berichtet von außerordentlich klugen, vielseitigen, kreativen Menschen, die nie zur Schule gingen (oder dort scheiterten). Davon handelt auch Olivier Kellers Buch »Denn mein Leben ist Lernen«. Eine der Hauptpersonen, Eléonore Stern, berichtet: »Da mein Leben nicht von Lehrplänen und Hausaufgaben bestimmt wurde, war es für mich stets natürlich, es selbst zu gestalten. Jeder Tag ist ein Abenteuer. Ich darf immer wieder Neues entdecken und schöpfen, (…) bin neugierig und offen für Begegnungen, spüre keine Müdigkeit in meinem Kopf.«

Man sagt, die »Entschulung der Gesellschaft« (Ivan Illich) sei kein Thema mehr. Ich sehe das anders. Schule als Ort der »Standardisierung menschlicher Innerlichkeit« (frei nach Hans Thomae) ist eine kulturgeschichtliche Sackgasse. Andererseits: Wo finden Kinder heutzutage die Möglichkeit, einfach lernend in das Leben einzutauchen? Kellers Beispiele sind leider nicht verallgemeinerbar. Schulen haben ausgedient, doch ihre ersatzlose Streichung wäre auch keine Lösung. Deshalb brauchen wir eine ›Post-Schul-Schulbewegung‹ mit dem Ziel, immer konsequenter über Bord zu werfen, was man gemeinhin unter Beschulung versteht. Entspräche das nicht dem Waldorf-Gründungs­impuls?

Übrigens: Das Buch »War Michel aus Lönneberga aufmerk-samkeits­gestört?« ist in fünfter Auflage erschienen.