Die Sexualkunde gehört entrümpelt. Eine Polemik

Valentin Hacken

Die Moderatorin Sandra Maischberger sitzt in ihrer Sendung, hantiert mit einem Styropor-Penis. »Auch nicht, was ich am liebste tue«, sagt sie. Völlig zurecht – wer will das schon. Und wozu eigentlich? Ein Entwurf der Landesregierung möchte »zukunftsorientierte Leitprinzipien« festschreiben, die klassenstufen- und fächerübergreifend von den Schulen umgesetzt werden sollen. Dabei sind zusätzlich zu jedem Leitprinzip »Gesichtspunkte der sexuellen Vielfalt« zu berücksichtigen. Praktisch könnte das beispielsweise bedeuten, dass sich Schüler im Deutschunterricht der achten Klasse fragen werden, wie in den Medien Geschlechterrollen und die Situation von LSBTTI-Menschen (lesbisch, schwul, bi, transsexuell, transgender, intersexuell) dargestellt werden. Das hat eine bemerkenswerte Reaktion ausgelöst, in kürzester Zeit zeichneten knapp 200.000 Menschen eine Petition gegen dieses Vorhaben mit, die Feuilletons überschlugen sich.

Der erste Irrtum ist, dass es mit diesem Bildungsplan bevorzugt darum gehen solle, über sexuelle Praktiken zu sprechen. Das aber hat nichts mit dem Vorhaben der grün-roten Landesregierung zu tun. Der Entwurf will Schüler nicht zu bestimmten Sexualpraktiken verführen, sondern die Lehrer sollen mit ihnen darüber sprechen, wie vielfältig Liebe und Beziehungen sein können. Der evangelikale Talkshow-Gast Steeb hält davon nichts, er will junge Männer ermutigen, Frauen zu heiraten. In seiner Familie kein Problem, er ist dankbar, dass keines seiner Kinder homosexuell ist – die sind es bei einem solchen Vater sicher auch.

Aber wen wir lieben, zu wem wir uns hingezogen fühlen, mit wem wir unser Leben teilen wollen – das kann uns keiner vorschreiben, auch wir uns selbst nicht. Sexuelle Präferenz ist keine Wahl, sie hängt nicht von reiflicher Überlegung ab, sondern existiert einfach. Kein Bildungsplan macht einen Schüler homosexuell.

Welche Verheerungen können also angerichtet werden? Eine Umwertung der Werte? Ein erweitertes Weltbild? Plötzlich fühlen sich heterosexuelle Jugendliche gemobbt, weil »transgender« zu sein im Unterricht viel cooler dargestellt wurde? Das ist absurd. Angenommen, es wäre möglich, etwa Homo­sexualität zu bewerben – was dann? Es könnte sich jemand entscheiden, schwul zu werden. Das kann nur ein Problem sein, wenn er dann weniger wert ist. Und darum geht es im Kern. Lautstark wird verlangt, nicht »politisch korrekt« sein zu müssen, sondern diskriminieren zu dürfen. Es ist eine inhumane Haltung, jemanden wegen seines Soseins abzuwerten, die individuelle Suche nach Glück, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die verschiedenen Formen von Liebe und Beziehungen diskreditieren zu müssen.

Wer hat die Macht?

In Deutschland erleben, wie eine empirische Untersuchung zeigt, 48 Prozent der nicht heterosexuellen Menschen Diskriminierung, europaweit trauen sich 66 Prozent nicht, in der Öffentlichkeit zu sich zu stehen und sich zu erlauben, was für Heterosexuelle ganz normal ist. Gewalt gegen sie füllt hunderte Akten, der internationale Vergleich ist noch wesentlich erschreckender. Jugendliche, die nicht hetero­­sexuell sind, begehen fünfmal öfter Selbstmord als heterosexuelle, was nicht überraschend ist, wenn man sich beispielsweise die traurige Realität an den Schulen anschaut: das häufigste Schimpfwort dort ist laut einer Studie der HU Berlin »Schwuchtel«. Unsere Kultur, ihre Ordnung und Sicherheit bezahlen wir, so Siegmund Freud, mit Unwohlsein, weil ihre Tabus uns einschränken. Dafür binden sie auch unsere Aggression. Nun machen sich Teile der Gesellschaft daran, Tabus zu streichen und in Teilen der Mehrheit entsteht Angst vor Marginalisierung. Es brodelt in der Gesellschaft, die Aversion wird allmählich sichtbar und sie nimmt, entgegen allen Sonntagsreden, weltweit jährlich zu, sie brachte zuletzt in Paris eine Million Menschen gegen die Homo-Ehe auf die Straße. Was bei Maischberger nur borniert scheint, diese schlecht versteckte Homophobie, ist gesamtgesellschaftlich ein Machtkampf. Es geht um die Frage, wer im bisher heteronormativen öffentlichen Raum gleichberechtigt sichtbar sein darf. Es geht um Rollenzuschreibungen, was eigentlich männlich und weiblich ist, wer sich gegen wen abgrenzt, wer wen ausgrenzt, für eine Hierarchisierung von Lebensformen. Erstmal überfordert zu sein und sich zurechtfinden zu müssen, ist so natürlich wie legitim. Das als zu anstrengend abzutun nicht.

Fehlende Konzepte an Waldorfschulen

Das gilt auch für die Waldorfschulen. Doch hier ist auf weiter Flur noch kein Konzept zur sexuellen Vielfalt zu entdecken. Im Gegenteil zeigt sich schon der Sexualkundeunterricht problematisch. In einer Stichprobe konnten sich zehn von fünfzehn Schülern gar nicht erinnern, einen gehabt zu haben. Exemplifizieren lassen sich die Schwierigkeiten mit zwei Beiträgen. Zuerst ein Vortrag des Kongresses »Liebe und Sexualität« (Erziehungskunst 1/14), überschrieben mit »Sexualität im Internet – Jugend am Abgrund des Menschseins?«.

»Unfair«, sei es, dass sich Jugendliche mit Darstellungen auseinandersetzen müssten, bei denen selbst der Erwachsene »Mühe hat, sich zurechtzufinden«, so Referent Greiner.  Wer hier den Abgrund des Menschseins vermutet, zeigt eine erstaunliche Dimensionslosigkeit – es geht um die Darstellung von Sex, nicht um Massenmord. Und mit gutem Sexualkundeunterricht findet man sich auch mühelos in einem Porno zurecht.

Das wird die Autoren des Buchs »Sexualkunde in der Waldorfpädagogik« nicht beruhigen, denn dort gilt Pornographie ohnehin als Teufelswerk. Sexuelle Vielfalt sucht man hier vergebens, lediglich Homosexualität findet sich als »brennende Frage aus der Praxis« und kann laut Michaela Glöckler ihre Ursache u.a. in gewaltvollen sexuellen Erlebnissen der vergangenen Inkarnationen haben. Statt Gender-Mainstreaming, das nach Rollenbildern und Stereotypen fragen würde, lässt sich lernen, dass die Frau sich für das tiefe, intellektuelle Nachdenken weniger eignet als der Mann und ein leistungsorientiertes Bildungssystem männlich ist.

Lehrende werden hier nicht nur eindringlich gewarnt, zu früh mit den Kindern über Sexualität zu sprechen und dabei schematische Funktionszeichnungen oder Modelle zu verwenden, sondern lieber ermutigt, Karma zum Unterrichtsthema zu machen; Sexualkunde als günstige Gelegenheit, die eigene Weltanschauung einzubringen. Dazu gibt es allerlei Beispiele für eine Unterrichtsgestaltung, die entgegen den Programmsätzen nicht für Klarheit sorgt, sondern eine Mystifizierung von Sexualität betreibt, mit dem Ziel, Sexualität menschlich werden zu lassen, im Ganzen und im einzelnen Schüler. Eine Sexualität, die in der Waldorfpädagogik vor allem als gefährdet wahrgenommen wird. Vom Materialismus, den bösen Medien, einer zerstörerischen Sachlichkeit, der Leib-Seele-Trennung, HipHop, Computerspielen, Internet. Und auch hier die apokalyptische Vision: Menschheit am Abgrund.

Auf der Suche nach dem Glück

Dass sich das nicht mit der Wirklichkeit deckt, verraten neben anderem die Shell-Jugendstudie und der Sexualreport der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), oder aufmerksame Beobachtung (siehe auch »Schwäne sind schwarz und Pubertierende kiffen« in Erziehungskunst 2/2014). Der erste Sex kommt nicht immer früher, Gangbangs sind nicht die Freizeitbeschäftigung der Wahl und Jugendliche haben in der Regel einen realistischen und reflektierten Umgang mit Pornographie. So sehr fokussiert wird auf das Grelle: sie zeigen sich als ganz und gar menschlich, auf der Suche nach Glück und innigen, verantwortungsvollen Beziehungen. Die Bemühungen in der Waldorfpädagogik richten sich aktuell de facto darauf, Sexualität statt durch Tabus durch eine Einbindung in höchste spirituelle Zusammenhänge zu binden. Ein sittlich, esoterisch, moralisch und religiös vollkommen überfrachtetes Vorgehen, das zudem den Stand der universitären Wissenschaften ignorant ausblendet und stattdessen lieber Rudolf Steiner noch an seinen unhaltbarsten Stellen auslegt. Es wird Erleuchtung gesucht, nicht Glück. Doch Kinder sind nicht blöde, im geschützten Rahmen werden sie auch nicht schockiert, wenn sie in der Unterstufe Worte zur Benennung ihrer Körperteile lernen, das ist geradezu essenziell, wenn sie sich selbstbestimmt erleben sollen. Und sie brauchen keine magischen Tricks, um ganz von selbst sich und die Welt zu erfahren und zu erleben, dass Sexualität kein mechanischer Vorgang ist, dass Liebe uns transzendieren kann. Sie brauchen keine Lehrer, deren Scham sie aus Zuneigung übernehmen – was von den Autoren missverstanden wird als Funktionieren ihrer Unterrichtsbeispiele. Dabei projizieren die erwachsenen Autoren die Angst und das Unwohlsein mit Sexualität und Zeitphänomenen in die Schüler und machen sie zu deren Problem. Das Erschrecken der Erwachsenen über die Sexualität ihrer Kinder bricht sich Bahn als vermeintliches Schutzbedürfnis, an dem die eigenen Ängste kuriert werden. Das ist menschlich, aber keine Menschenkunde. Helfen würde Humor, der es erlaubt, liebevoll auf die Ich-fremden Anteile zu blicken, die zu unserem Leben gehören, wenn wir uns gelegentlich ganz vergessen, verlieren können wollen – nicht heiliger Ernst.

»Wir müssen uns klar werden, dass wir […] in einem Entwicklungsprozess stehen, der letztlich darauf hinausläuft, dass wir erwachsener, mündiger und selbstverantwortlicher werden«, schrieb der Analytiker Fritz Riemann. Die enttabuisierte sexuelle Vielfalt, die Rollenbilder in Bewegung, all das fordert die Bewusstseinsebene und auch das Bewusstsein in der Waldorfpädagogik. Ihre Schüler brauchen eine vernünftige Aufklärung, um selbstbestimmt zu leben und eine Schule, deren Weltbild nicht exklusiv heterosexuell ist, um sich selbstbewusst zu entwickeln.

Zum Autor: Valentin Hacken studiert Rechtswissenschaften in Halle a. d. Saale und arbeitet als freier Autor und Vortragsredner. Von 2007 bis 2013 war er Schülervertreter im Bund der Freien Waldorfschulen.