Die Sprengkraft des Physikunterrichts

Wilfried Sommer

Was ich als Physiklehrer wirklich gerne miterlebt hätte, ist die fünfte Solvay-Konferenz im Oktober 1927 in Brüssel. Von den neunundzwanzig Teilnehmern erhielten siebzehn im Laufe ihres Lebens den Nobelpreis. Niels Bohr und Albert Einstein debattierten über die Deutung der Quantentheorie. Eine Debatte, die sich noch über Jahre hinziehen sollte.

Es ging um nichts Geringeres als die Frage nach der Wirklichkeit. Der Aufbruch, den die Physik zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mit der Entwicklung der Quanten- theorie erlebt hat, elektrisiert noch heute. Wie kann der Physik­unterricht etwas von dieser Aufbruchstimmung einfangen? Was ist wirklich? Die Diskussion dieser Frage ist anspruchsvoll und fordert die Urteilkraft in besonderem Maße heraus. Können Schüler einer zwölften Klasse die Sprengkraft der Bohr-Einstein-Debatte erleben und sich an ihr entwickeln? Unter Physiklehrern, die an Waldorfschulen unterrichten, werden immer wieder Wege diskutiert, die das ermöglichen sollen. Eine Erscheinung – wie zum Beispiel aus dem Gebiet der Optik – wird von den Schülern mit unterschiedlichen Erklärungsansätzen oder Verstehensbewegungen analysiert. Es gilt, die Wege zu vergleichen und Stellung zu beziehen. Der philosophische Blick wird mit physikalischen Argumentationslinien verbunden.

Die Zumutungen beginnen

Wenn es verschiedene Verstehensbewegungen in Bezug auf eine Erscheinung gibt, die allesamt zu Aha-Erlebnissen führen, welche ist dann wirklich? Darf ich die Frage so stellen? – Eines ist klar: Dass die Welt an sich so ist, wie ich sie mir in meinem Alltagsbewusstsein für gewöhnlich als real vorstelle, lässt sich nur unreflektiert halten. Der naive Realismus steht zur Diskussion. Wann ist es beispielsweise sinnvoll zu denken, das Licht bestehe aus Strahlen, aus Wellen oder aus Photonen? Der multiperspektivische Ansatz in der Physikepoche einer zwölften Klasse kann hier Türen öffnen, so dass einem eine Bohr-Einstein-Debatte schließlich keine Ruhe mehr lässt. Das Reflexionsniveau der Schüler kommt in der Gegenwart an.

Jan-Peter Meyn, Professor für Didaktik der Physik an der Universität Erlangen, hat die Diskussion von Waldorf­lehrern und Physikdidaktikern wie Manfred von Mackensen, Heinz-Christian Ohlendorf, Johannes Grebe-Ellis und anderen aufgegriffen und schlägt vor, im Unterricht nicht mehr davon zu sprechen, dass das Licht aus Photonen bestehe, sondern vielmehr konsequent zu entwickeln, wie aus dem Licht einzelne Photonen präpariert werden können. Das heißt, experimentelles Bedingungsgefüge und beobachtetes Objekt sind nicht voneinander zu trennen. Hier liegt die Zumutung. Ein naiver Objektbegriff bricht zusammen. Der Physikunterricht kann konsequent auf diese Zumutung hinführen und den Schülern dadurch eine Entwicklungschance bieten. Die Schüler kommen im Kern der Bohr-Einstein-Debatte an. Es ist schon jetzt abzusehen, dass in wenigen Jahren die Waldorfschulen durch ihre Vernetzung mit den Universitäten entsprechende anspruchsvolle Experimente mit ihren Schülern werden durchführen können. Die naturwissenschaft­lichen Räume des Lehrerseminars für Waldorfpädagogik Kassel schaffen bereits heute die Voraussetzungen dafür.

Befreiungserlebnis: Galilei und der freie Fall

In der zehnten Klasse gibt es eine vergleichbare Situation. Wenn sie bemerken, dass selbst aufgebaute Gedankenformen mit äußeren Abläufen völlig übereinstimmen können, empfinden manche Schüler ein ähnliches Befreiungsmoment. Als Galilei sich die Frage stellte, wie Körper zur Erde fallen, suchte er nach einer möglichst einfachen Bewegung. Eine solche einfache Bewegung liegt vor, wenn pro Zeiteinheit die Geschwindigkeit um gleiche Beträge zunimmt. Wie sieht eine solche Fallbewegung aus? Konsequente Überlegungen führen dazu, dass sich die pro Zeiteinheit zurückgelegten Wegabschnitte wie die Folge der ungeraden Zahlen verhalten müssen. Und so ist es in der Tat: die ungeraden Zahlen 1, 3, 5, 7 … finden sich im freien Fall wieder, sofern man die Reibung vernachlässigt. Der idealisierende Ansatz, der die Reibung unberücksichtigt lässt, zeigt, wie tragfähig eine Idee ist – hier die Folge der ungeraden Zahlen. Dass der freie Fall genau so stattfindet, wie man es selbst gedanklich entwickelt hat, kann regelrecht irritieren. Man ist, wie es der bekannte Physikdidaktiker und Pädagoge Martin Wagenschein formulieren würde, »zäh am Staunen«. Ein weiteres Mal wird eine Aufbruchstimmung, die geschichtlich in der Physik aufgetreten ist, im Bildungsprozess genutzt.

Von der Physik zur Technik: ein Thema der Pubertät

Das neunzehnte Jahrhundert war für die Physik vor allem das Jahrhundert der Elektrizität. Aus den physikalischen Forschungen dieser Zeit hat sich Technik entwickelt. Sie bestimmt heute vor allem als Kommunikationstechnik unsere Zivilisation. Die pubertierenden Jugendlichen signalisieren auf mannigfaltige Weise, dass sie sich ab sofort unbedingt das Leben in seiner Fülle zu eigen machen oder die Zivilisation, in der sie hier und jetzt leben, verstehen wollen, dass es ihnen darum geht, Zeitgenossen zu werden, die eine eigene Meinung haben. Die Physik an Waldorfschulen greift diesen pubertären Umbruch auf, indem sie den Weg von der Physik zur Technik mit den Schülern beschreitet. Das Motiv des Aufbruchs zieht sich durch, aber im Vergleich zur zwölften Klasse in einem deutlich anderen Gewand.

Hier konzentrieren sich in letzter Zeit die Forschungsaktivitäten der Waldorfschulen. So werden derzeit Unterrichtsreihen zum digitalen Telefon entwickelt, ein Lehrgerät zur Demonstration der Fax- und seriellen Datenübertragung wurde patentiert. Die Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen ist stolz darauf, den nach Zeitgenossenschaft verlangenden Jugendlichen eine aktuelle Antwort in Form eines leistungsstarken Lehrmittels zur Verfügung stellen zu können.

Naturwissenschaft an Waldorfschulen auf dem Vormarsch?

Die mancherorts gestellte Frage, ob der naturwissenschaftliche Unterricht an der Waldorfschule zu kurz komme, lässt sich nicht allgemein beantworten, sie muss von jeder einzelnen Waldorfschule beantwortet werden. Es lässt sich aber feststellen, dass die didaktischen Ansätze im Rahmen von Fortbildungen kontinuierlich diskutiert und reflektiert werden. Dieser Prozess ist universitär gut vernetzt. Schließlich fließen nicht unbedeutende finanzielle Mittel des Bundes der Freien Waldorfschulen in die Entwicklung moderner Lehrmittel. – An dieser Stelle erlebe ich einen erfreulichen Qualitätsentwicklungs- und -sicherungsprozess.