Zum Ende eines Schuljahres präsentiert die jeweilige 1. Klasse des Berufskollegs alljährlich ihre Erfahrungen, Fragen und Reflexionen aus und zu ihrem Praktikum. Wobei der Begriff »Praktikum« hier eine ganz andere Dimension hat, als die »Schulpraktika« aus den Jahren zuvor. Hier geht es um berufliche Qualifizierung. Ein Jahr lang sind die im Durchschnitt 17-jährigen Schüler in das Berufsleben einer sozialen Einrichtung eingetaucht. Unterbrochen von vier Schulepochen sind sie acht Stunden am Tag dort jeweils tätig, zum Teil im Schichtdienst, ohne Schulferien, wie ihre Mitschüler an der Waldorfschule, sondern mit Urlaubstagen nach den tarifüblichen Bedingungen wie jeder andere Arbeitnehmer auch.
Die Praktikumsordnung der Fachoberschule für Gesundheit und Soziales – so die Fachrichtung des Berufskollegs – sieht vor, dass die Praktikanten in ihren Betrieben zunehmend selbstständig handeln und eigenverantwortlich Aufgaben übernehmen sollen. Wie haben sie ihre Anforderungen gemeistert? Was konnten sie in dieser Zeit für sich lernen? Was hat sie verändert und wie haben sie sich entwickelt?
Existenzielle Erfahrungen gesammelt
Die Schüler stellen ihre Erfahrungen in kleineren Gruppen nach Themen oder Bereichen dar, da sie in unterschiedlichen Einrichtungen waren: Kindergarten, Jugendarbeit, Krankenhaus, Behinderteneinrichtung, Altenpflege oder Tagesstationen. Sie haben sich untereinander ausgetauscht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede festgestellt, ihre Erfahrungen und Fragen unter bestimmten Gesichtspunkten gebündelt. Mit beeindruckender Klarheit schildern sie anhand von besonderen Erlebnissen, Fallbeispielen und Alltagssituationen, wie sie mit ihren persönlichen und sozialen Herausforderungen umgegangen sind, welche Einsichten sie dadurch gewonnen und welche Entwicklungsschritte sie gemacht haben. Nicht ohne Humor erzählt zum Beispiel ein Kollegiat, wie ihm der Rollenwechsel vom Schüler zum Erzieher beim Malen mit Kindern bewusst geworden ist: Zunächst hat er fleißig mitgemalt, auf Anfrage gar Bilder für die Kinder gefertigt oder deren Bilder verbessert – bis ihm aufging, dass nicht er, sondern die Kinder ihre malerischen Ausdrucksmöglichkeiten erweitern sollten.
Betroffenheit lösen die Erlebnisse einer Schülerin mit minderjährigen Müttern und ihren Kindern in einem Mutter-Kind-Haus aus. Eindrücklich reflektiert sie daran ihre eigenen Entwicklungsschritte: von der emphatischen Verzweiflung angesichts katastrophaler Verhältnisse, über das Erlebnis der Ohnmacht des hilflosen Helfers, der nur dann richtig agieren kann, wenn die Hilfe auch angenommen wird, bis zu den Glücksgefühlen, die sich durch kleine Erfolge mit der Taktik kleiner und kleinster Schritte einstellen können.
Im Verlauf der Darstellungen haben die Zuhörer Teil an existenziellen Erfahrungen der Jugendlichen: dem Miterleben von Geburt und Tod, dem Umgang mit Krankheit und Behinderung, mit Altersdemenz und schwierigen sozialen Fällen – nicht durch vom Lehrplan empfohlene und aufbereitete Lektüre, sondern durch die unverstellte Realität.
Deutlich weisen sie aber auch auf Fragen und Probleme in den sozialen Bereichen hin, die ihnen aus eigenem Erleben erfahrbar geworden sind: mangelnde Ressourcen, psychische Belastungen und chronischer Personalmangel in vielen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens. So entsteht nach und nach ein Panorama von sozialen Aufgaben und Aufträgen, die es gilt, in unserer Gesellschaft gemeinsam anzugehen.
Sinnhaftigkeit – Selbstwirksamkeit – Verantwortung
Was ist es, was diese jungen Menschen in der Berufs- und Arbeitswelt gesucht und gebraucht haben, was ihnen die Schule für ihre Entwicklung offensichtlich bisher so nicht geben konnte?
Einige Zitate aus den schriftlichen Reflexionen der Kollegiaten können hier Hinweise geben.
Eine Kollegiatin, die in einer sozial-psychiatrischen Einrichtung tätig war und zunehmend eigenverantwortlich kreativ mit den kranken Menschen arbeiten konnte, formuliert: »Letztes Jahr, ungefähr um die gleiche Zeit, hatte ich ein wenig Angst vor dem ›im Beruf sein‹. Doch ich muss sagen, dass es mir sehr zusprach. Nicht nur die geregelten Arbeitszeiten, das immer wieder neue Erleben, sondern auch das Gefühl, etwas geschafft zu haben und den Menschen etwas beigebracht zu haben, was ihnen im Leben weiterhilft. Oder ihnen auch einfach nur einen schönen Tag gemacht zu haben.«
Sehr genau analysiert eine andere Kollegiatin, die in der Reittherapie tätig war, das Verhältnis von Arbeit und Schule in ihrem Erleben: »Für mich ist es ein völlig neues Gefühl in einem richtigen Beruf zu arbeiten. Bisher kannte ich nur die Schule und das hieß: Ich packe morgens meine Tasche, mache mich dann auf den Weg in die Schule, höre dort dem Lehrer zu und versuche ihn auch zu verstehen. Danach gehe ich nach Hause, mache meine Hausaufgaben. Kurz gesagt: Bisher kannte ich nur das einfache Prinzip, dass der Lehrer mir etwas sagt und dass ich das dann mache, nicht mehr und nicht weniger. Doch als ich dann in die Reittherapie kam, änderte sich das Prinzip. Ich musste nicht mehr eine Aufgabe erledigen und dann warten, bis mir jemand die nächste Aufgabe gibt, sondern ich musste plötzlich anfangen, vorausschauend zu arbeiten. Nun musste ich mir meine Aufgaben größtenteils selbst suchen… Trotzdem ist das Berufsleben auch sehr anstrengend. Bisher habe ich noch nicht viel Verantwortung tragen müssen, da man in der Schule damit nicht so viel zu tun hatte. Doch bei der Arbeit trägt man ständig Verantwortung für etwas, man trägt die Verantwortung für sein eigenes Tun oder das Tun eines Betreuten.«
An solchen Äußerungen, die exemplarisch für viele stehen, wird deutlich, wie das praktische Handeln im Berufsleben den Bedürfnissen dieser jungen Menschen nach Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns, Selbstwirksamkeit und Übernahme von Verantwortung anders und ganzheitlicher entgegenzukommen vermag, als schulisches Lernen – auch wenn der Blick von Erwachsenen und Lehrern hierauf ein anderer sein mag.
Auch die Erfahrung der eigenen Veränderung ist ein wichtiges Motiv: »Ich kann nur jedem weiter empfehlen, ein Jahrespraktikum zu machen. Dadurch lernt man nicht nur viel Handwerkliches, sondern denkt auch anders über bestimmte Dinge nach. Ich blicke seit ein paar Wochen ganz anders auf kranke Menschen. Ich versuche sie zu verstehen und kann mir denken, was sie ungefähr schon in ihrem Leben durchgemacht haben müssen. Ich merke, wie ich durch dieses Jahr weniger arrogant geworden bin. Heute schaue ich mir die Menschen genauer an und urteile nicht sofort.«
Interessanterweise beschreiben immer wieder auch Kollegiaten, dass ihnen bei aller Anstrengung das Arbeitsleben attraktiver erscheint als die Schule, weil es ihnen Kraft gibt: »… auch der weniger monotone Tagesablauf macht das Arbeitsleben attraktiv. Ich konnte die Erfahrung machen, dass ich nach einem Arbeitstag noch deutlich fitter war, als nach einem Schultag, weil man den ganzen Tag über einfach viel mehr auf Achse ist, sich mehr bewegt und von einem kein 100-prozentiger Fokus auf nur eine Sache verlangt wird.«
Man fühlt sich an Goethe erinnert: »Der Gedanke weitet, aber lähmt – die Tat beschränkt, aber belebt!« (Wilhelm Meister)
Schule – eine künstliche Veranstaltung?
Als Lehrer kommt man ins Grübeln: Sicherlich gibt es viele Schüler, die unbeschadet von einer »Schulmüdigkeit« gradlinig und erfolgreich die Schule bis zum Abitur durchlaufen. Aber: Kann die gegenwärtige Form von Schule, insbesondere die Oberstufe, den Entwicklungsbedürfnissen vieler junger Menschen wirklich gerecht werden? Auch bei hoher Lernbereitschaft und differenzierten Angeboten bleibt die Schule doch eine künstliche Veranstaltung. Im Jahrtausende langen Gang der Geschichte ist sie eine junge Form der Einübung in Zivilisation. Entspricht ihre aktuelle Form überhaupt der menschlichen Natur? Wo und wie kann Schule kohärentes Erleben vermitteln, das glücklich macht?
Im Unterricht, insbesondere im theoretischen Unterricht, sind die Schüler über weite Strecken gezwungen, bei sich zu bleiben. Im Arbeitsleben hingegen kann sich die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns und die Verantwortung für andere unmittelbar erschließen. An dem Engagement und der Einsatzbereitschaft der Kollegiaten kann man ablesen, welche Entwicklungskräfte hier freigesetzt werden können. Gewiss, die Praxis muss durch die Theorie gestützt und erhellt werden, aber ist das Wechselspiel von Theorie und Praxis in der Schule ausgewogen? Müssten nicht, wie im Berufskolleg, generell viel mehr außerschulische Lernorte in Bildungskonzepte einbezogen werden? Muss nicht auch das tiefer liegende Spannungsfeld des »für sich« und »für andere«, welches die Persönlichkeitsentwicklung fördert und fordert, viel mehr bedacht werden?
Zum Autor: Dr. Wilfried Gabriel ist Lehrer an der Rudolf-Steiner- Schule Schloss Hamborn mit den Fächern Erziehungswissen-schaften, Mathematik, und Physik; Schulleiter Berufskolleg Schloss Hamborn; Mitglied der Forschungsstelle für Waldorf-Arbeitspädagogik/-Berufsbildung an der Alanus Hochschule, Alfter
Literatur: Das Waldorf-Berufskolleg Schloss Hamborn. In: Schneider/Enderle (Hrsg.): Das Waldorf-Berufskolleg, Frankfurt a. M. 2012 | Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik: erkenntniswissenschaftliche Zugänge zu Rudolf Steiners pädagogischem Impuls. In: Heusser/ Weinzirl (Hrsg.): Rudolf Steiner. Seine Bedeutung für Wissenschaft und Leben heute, Stuttgart 2014