Die Temperamente sind die Farben der Seele

Elke Leipold

Denke ich an Temperamente im Kindergartenalter, dann sehe ich Farben, die immer wieder in anderem Licht erscheinen, höre Töne, die immer wieder in anderen Tonarten erklingen. Eine weit verbreitete Ansicht ist: Bei Kindern im Kindergartenalter ist das sanguinische Temperament vorherrschend ... Das ist sicher nicht von der Hand zu weisen, doch wir sollten offen sein für wechselnde Konfigurationen und wechselnde Farben. Jedes Kind muss individuell angeschaut werden. Festlegungen sind – zumindest im Kindergartenalter – pädagogisch kontraproduktiv. Sie verbauen den Blick auf das ganze Wesen des Kindergartenkindes, sind Temperamentsäußerungen doch oft auch situationsgebunden und dementsprechend vielfältig. 

David und Anton 

Da sind zum Beispiel David und Anton. David war bei anderen Müttern nicht sehr beliebt, musste er doch für alles herhalten, was ein Kind angestellt haben könnte. Manchmal hatte er ja auch, aber nicht immer. Jeden Morgen kam er mit kräftigem Schritt in den Kindergarten, schnell hatte der am nächsten Stehende einen freundschaftlichen – was auch sonst – Rempler bekommen. Das Stuhlbein bekam etwas ab, ein Malblatt fiel herunter und schließlich landete er bei mir mit festem Händedruck. Cholerisch? Er konnte schnell und leicht springen, entdeckte tausend Dinge auf einmal, war blitzschnell im Erkennen von Situationen. Sanguinisch? Hatte er keine Lust, kuschelte er in der Bauecke, war zu keinem Spiel zu bewegen, kroch hervor, wenn es etwas zu Essen gab. Phlegmatisch? Melancholisch? Schließlich konnte er auch anhaltend herzzerreißend traurig sein, wenn er einsah, dass er etwas angestellt hatte ... Für David war es aber auch schon der dritte Kindergarten, seine Eltern waren mehr als einmal umgezogen.

Auch Anton kam schweren Schrittes in die Gruppe. Er hielt die Hand des Vaters fest, der Mund schmollte etwas, nichts war so richtig gut. Erst wenn der Vater den Raum verlassen hatte, bewegte sich Anton in Richtung Tisch, legte sich etwas drüber und betrachtete ein Bild, das ein Kind malte: »Da fehlt aber ein Fenster.« Ein phlegmatisch-melancholisches Kind. Oder? Könnte man meinen, wenn man Anton nicht in heftigem Zorn erlebt hat, weil Mutter oder Vater ihm beim Abholen nicht die Schuhe binden wollten … 

Felix 

Ein anderer Gedanke kommt mir bei Felix. Tief melancholisch, mit stark cholerischen Zügen. Aber warum? Felix wächst zweisprachig auf, lebt mit seiner alleinerziehenden Mutter, die all ihre Nöte mit ihm teilt, zusammen. Sie erklärt alles intellektuell, mit drohenden Untertönen, und – damit nicht genug –, sieht er Filme, die seinen Intellekt und vor allem sein Seelchen überfordern, ja verletzen. Wenn ihm etwas nicht gefällt, andere Kinder nicht tun, was er »befiehlt«, oder wenn er meint, sich über mangelnde Aufmerksamkeit beklagen zu müssen, schreit er hysterisch und ist kaum zu beruhigen. In ihrer Not wendet die Erzieherin zu guter Letzt dann an, was pädagogisch als nicht sinnvoll erachtet wird: die ›Unmethode‹ »wenn – dann«: »Lieber Felix, wenn Du jetzt nicht aufhören kannst zu schreien, dann ruf ich Deine Mutter an, damit sie dich abholt.« Felix ist still und verwandelt sich in ein herziges Lämmchen. Ein melancholiches Temperament? Mag sein, dass es in der Disposition gegeben ist. Sicher ist, dass ihn seine Lebensumstände auf unglückliche Art und Weise beeinflussen. Vielleicht möchte sich aus dem Urgrund seines Wesens etwas ganz anderes entwickeln, vielleicht auch ein anderes Temperament. Das gilt es herauszufinden, um die Zacken, die aus dem kleinen Buben schießen, zu runden und zu mildern. Vielleicht hat er dann eine Chance, sich seinem Wesen gemäß zu entwickeln, auch im Hinblick auf sein Temperament. 

Warum, so frage ich mich, fielen mir als erstes drei Buben ein? Liegt es vielleicht daran, dass Mädchen ihre »Hüllen« anders drapieren? Es mag sein, dass Buben im Kindergartenalter unverblümter ihr Gemüt zu erkennen geben. Sie sind ja ohnehin im Fokus der Pädagogen. Sie gelten stärker als ADS/ADHS gefährdet, so mancher ist kaum zu bändigen und der Ruf nach einer geschlechtsspezifischen Er­ziehung ertönt immer wieder.

So kann das gesehen werden. Aber meine Beobachtung sagt mir, dass jedes Kind, ganz gleich ob Junge oder Mädchen, eine individuelle Antwort fordert. Das heißt, ich muss weder vor einer scheinbar kraftstrotzenden Ruppigkeit zurückweichen, noch mich nur den »so süßen« Mädchen zuwenden. Beobachte ich die Individualität ohne vorschnelles Urteilen, sagt sie mir, wie das jeweilige Kind angesprochen sein will und in welcher Temperamentslage es gerade steckt, was durchaus auch situationsbedingt sein kann.

Die Temperamente malen im Kindergartenalter ein Bild aus verschiedenen Farben. Mal ist es die eine, mal die andere, die den Ton angibt. Und dass Sanguinik ein kindliches Temperament par exellence ist, nehmen wir dankbar als gegeben. 

Susanne 

Susanne ist ein Mädchen, das nicht immer gekämmt und ordentlich gekleidet in den Kindergarten kommt. Es ist eines von mehreren Geschwistern und stolz darauf, sich selbst anzukleiden. Sie betritt wie selbstverständlich den Raum, geht entweder zum Frühstückstisch, je nachdem, was dieser gerade – vielleicht auch zum Naschen – bietet. Mal ist ihr Gesichtsausdruck etwas verhangen und sie lümmelt sich an den Tisch, vielleicht nimmt sie sich noch Malutensilien und es dauert eine ganze Weile, bis sie sich ins allgemeine Spielgeschehen einfindet. Ein anderes Mal kommt sie strahlend herein, erzählt, was am Morgen zu Hause schon alles passiert ist, weiß, was sie spielen will und ihre warme Energie strömt in den Raum. Von der Statur her würde man sie eher als phlegmatisch einordnen – solange man sie noch nicht beim Reigen erlebt hat. Sie hüpft leichtfüßig und geschickt, freut sich an der Bewegung und erlebt alle Polaritäten genussvoll mit. Sozial gesehen ist sie ein ausgleichendes, vermittelndes Kind, das jeder Gruppe gut tut. Man kann gespannt sein, welches Temperament einmal die Führung übernehmen wird. 

Lotte und Lena 

Lotte und Lena sind Zwillinge, beide zumeist recht freundlich und fröhlich. Es gibt Tage, an denen jeder Beobachter sagen würde, das sind zwei sanguinische Kinder. Doch über einen längeren Zeitraum angeschaut, wird deutlich, dass Lotte, die um ein paar Minuten »ältere«, eine Neigung zum Melancholischen, Lena eine Neigung zum Cholerischen zeigt. Lotte kommt nicht so leicht ins Tun, im kleinen Köpfchen denkt es sichtbar und erst wenn sie zu einem Ergebnis gekommen ist, folgt allmählich die Tat. Anders bei Lena. Sie stolpert schon mal über einen aufgebauten Turm, greift zum nächstliegenden Spielangebot und schafft bereitwillig mit. Deutlich wird der Unterschied auch bei den gemalten Bildern. Lotte malt genau das, was sie sich vorstellt, während Lena zumeist eben malt, weil es gerade dran ist und sie ist wesentlich schneller fertig. »Ich glaube, du hast ein ›Husch-husch-Bild‹ gemalt«, sage ich. Ein strahlendes »Ja« bestätigt dies. Nun ja, es könnte auch gesagt werden: Lotte ist eher der intellektuelle Typ und Lenas Kraft kommt mehr aus dem Herzen. 

Rudolf Steiner lässt uns wissen, dass der Bildekräfteleib (Lebens- oder Ätherleib) der Träger der Temperamente ist, aber auch der Gewohnheiten, Neigungen, des Gewissens, des Gedächtnisses und des Charakters. Mit dem Freiwerden dieses »Leibes« nach dem Zahnwechsel wird auch manche »Farbe« deutlicher, wenn sie auch noch lange nicht als endgültig angesehen werden kann. Das bedeutet aber, dass auch Neigungen, Gewohnheiten sowie Lebensumstände und Emotionen das Bild einer Individualität malen und zu berücksichtigen sind, wollen Erzieher, Lehrer und Eltern dieser Individualität gerecht werden.

Mit Stefan Lebers Worten möchte ich schließen: »Das Instrument der Seele und des Geistes hat wenigstens eine kammermusikalische Besetzung, um die Melodie des Lebens zu intonieren und zum Klingen zu bringen. Ein Instrument ist dabei das Temperament« (Aus: »Die Menschenkunde der Waldorfpädagogik«). – Ein kleines Stück dieser Melodie erklingt im Kindergarten.