Klassenzimmer

Die Waldorfschule ist nicht das Paradies, aber ein schöner Garten

Monika Jonas
Foto: @ photocase_1090578

Letztes Jahr im Mai irgendwo in Nordrhein-Westfalen: Ich sitze in meiner vierten Klasse und betrachte die Kinder dort. Kinder aus zum Teil schwierigen sozialen Verhältnissen. Intelligente und müde Kinder, wache Kinder und solche, die viel Hilfe brauchen. Sie sind eher ernst und zum Teil frustriert. Kleine Menschen, die Deutsch als erste, zweite oder sogar erst dritte Sprache sprechen. Vier Jahre habe ich diese Klasse begleitet und sie umsorgt, gehegt, gepflegt und nach den Vorgaben eines Schulwesens erzogen, das ihnen perspektivisch nur geringe soziale Entwicklungschancen einräumt.

Ich war Lehrerin und Vertraute, Familienersatz und Korrektiv – vor allem aber ab der zweiten Klasse diejenige, die das Kind benotet. Selbst Elternhäuser, die in Kollegiumskreisen bildungsfern genannt werden, wissen: Ohne gute Noten wird man nichts. Gute Noten sind wichtig und richtig. Konkurrenz schläft nicht. Alle Kinder sind vergleichbar.

Ich beschließe, mich gegen das System aufzulehnen und verteile keine Laptops an meine Kinder. «Das kannst du nicht machen!», rufen meine Kolleg:innen entsetzt. «Die Kinder müssen doch wissen, wie Technik funktioniert!» Während ich meiner Klasse das nächste Arbeitsblatt hinlege, frage ich mich: «Was könnte aus diesen Kindern werden, hätten sie andere, individuellere Möglichkeiten zur Entwicklung?»

Seit fast zwanzig Jahren beschäftige ich mich mit der Pädagogik Rudolf Steiners und habe schon lange meinen gesamten Englischunterricht dementsprechend aufgebaut. Warum können die menschenkundlichen Grundlagen nicht auch für die grundlegenden Unterrichtsfächer der Staatsschule gelten? Ich war und bin motivierte Lehrerin durch und durch. 18 Jahre lang habe ich viele Kinder unterrichtet. Ich habe an Brennpunktschulen und Schulen mit sogenannten soliden Einzugsgebieten gearbeitet. Dennoch, die leise Stimme in meinem Innern fragt mich nun, was ich ihnen alles hätte noch geben können, wenn ich die Normierung der Staatsschule ausgesetzt und sie als Menschen, nicht nur freigegeben zur Benotung hätte unterrichten können.

Meine Kolleginnen und Kollegen – verbeamtet, scheinbar auf ewig an diese Schule mitten im sozialen Brennpunkt versetzt, dauerhaft frustriert, mit hohem Krankenstand, lassen gern ihre Verzweiflung aneinander aus. Die Welt ist hier weder gut noch schön. Sie bewegt sich im immer gleichen, frustrierenden Takt: Man gibt den Kindern jede Stunde ein neues Arbeitsblatt, 16.000 waren es allein im letzten Coronaschuljahr in jeder der vierten Klassen.Viele Lehrer:innen, die vor langer Zeit alles geben wollten, sind nun durch ein sich nicht bewegendes Schulsystem mit einem Ordnungsraster von sehr gut bis ungenügend abgestumpft, frustriert, müde und leidenschaftslos. Ihr Ziel: Die Zeit bis zu den nächsten Ferien gut zu überstehen.

Wo ist da die «Menschenkraft, die Du in meine Seele so gütig hast gepflanzt»? Lernbegierde? Lieb und Dank? Bei den Kindern, aber auch bei Lehrer:innen? Und schließlich auch bei mir? Ich merke, wie ich traurig werde und meine Menschenkraft nutzlos verbrauche, weil ich an schulischen Gegebenheiten scheitere, die ich nicht mehr bereit bin zu unterstützen. «Ich muss gehen, ich will so nicht mehr unterrichten», ist mein Gedanke – ich kann und will den Kindern unserer Zukunft mehr vermitteln, als ich es hier jemals könnte, das ist mein Entschluss.Ein Jahr später, wieder im Mai, an einer Waldorfschule am Niederrhein: Ich schaue zufrieden auf meine erste Klasse, die gerade unsere Mitte schmückt. Die Kinder legen selbstständig Tischdecke, Kerze, Kristall, Blumen und Dinge aus, die sie heute mitgebracht haben.

Dann beginnt unser Kreis: Begrüßen, Kerze anzünden, erzählen, ankommen, sich wohlfühlen. Wir sind füreinander da und nehmen uns wahr. Als individuelle Menschen, alle mit unseren eigenen Geschichten, aber jede und jeder als Teil von etwas Größerem – unserer lebendigen Klassengemeinschaft.Ich begrüße jedes Kind morgens an der Tür: Diese Kinder fühlen sich beachtet, erkannt, wertgeschätzt und zugehörig. Jedes so, wie es ist. Diese Kinder lernen jeden Tag in einem anderen Rhythmus, als die Staatsschule es vorsieht. Sie nehmen wahr, sind an die Jahreszeiten gebunden, sehen mit eigenen Augen und fühlen mit eigenen Händen, wie gut und wie schön die Welt ist. Sie kennen sich aus, meine Erstklässler:innen, die schon bald Zweitklässler:innen sein werden. Sie wissen, auch wenn sie es noch nicht benennen können, dass jeder einzelne Mensch einen Unterschied macht. Sie merken es, wenn jemand aus unserer Klasse fehlt, weil er oder sie krank ist.

Die Kinder meiner jetzigen Klasse wissen, dass bei uns alle lernen dürfen, egal wie schlau, ob Stofftier, Raupe, Biene oder Stein. Ich sehe, wie Lulu eine Raupe vorsichtig zum Fenster trägt und sagt: «Du darfst gern bei uns lernen, aber ich setze dich lieber hier draußen auf ein Blatt, da hast du es schöner.» Ich ringe kurz mit Tränen der Rührung. In meiner alten Klasse hätten erst alle geschrien, sich mit Angst der Raupe genähert und sie dann vielleicht zertreten.

Sie sind fröhlich, aufgeweckt, freundlich und interessiert, diese Kinder – und manche denken schon mehr über sich und die Welt nach, als meine letzte vierte Klasse es bei ihrem Abschied aus der Grundschulzeit konnte. Sie machen jetzt schon einen Unterschied im Umgang mit der Welt, obwohl sie noch so klein sind.

Vielleicht liegt es an den Sprachkenntnissen. Vielleicht an den Elternhäusern. Vielleicht liegt es aber auch an der Wachheit und dem Wunsch, «arbeitsam und lernbegierig» zu sein. Kinder, die nicht abgestumpft sechs Stunden Schule über sich ergehen lassen, sondern lebendig sind, lachen, nachdenken und sich manchmal auch ausprobieren. Das gehört dazu – die Menschenkraft will sich auf ein Ziel ausrichten.

Inzwischen flöten wir. Pentatonische Weisen tun uns gut und klingen schwebend, so wie die Kinder auch noch schwebend sind, hin zu ihrem einzigartigen Platz in der Welt. Ihr Ich kann sanft ankommen. Diese Kinder haben Zeit. Die Kinder meiner alten Klasse hatten keine. Sie sind gelandet. Unsanft aufgesetzt und direkt mitten im Geschehen. Eigentlich archaisch – für sie geht es direkt um das Überleben, um den Kampf von Schwach gegen Stark, rumänisch gegen türkisch, im Clan, in ihrem Viertel.

Was wäre gewesen, wenn ich einen rhythmischen Teil an meiner alten Schule gesprochen und mit den Kindern geübt hätte? Die meisten hätten ihn zunächst wohl gar nicht erst verstanden, aber vielleicht hätte es sie berührt. Poesie durch Wortgestalt und Schönheit wirken lassen. Vielleicht hätte die Schwingung der Worte sie erreicht … wer weiß?

Ich hätte ja auch in einer anderen Sprache mit den Kindern arbeiten können. Passiert aber nicht. Keine meiner ehemaligen Kolleg:innen lernt türkisch, arabisch, mazedonisch oder rumänisch, um dann in dieser Sprache Gedichte und kleine Verse mit den Kindern im Kreis zu sprechen. Warum auch? Deutsche Schule – deutsche Sprache – Gleichtakt. Hinhören, Mitschwingen – an meiner alten Schule undenkbar. Dies konnten meine Kolleg:innen leider dort schon lange nicht mehr. Alle wollten jeden Tag gehört und bedauert werden, wie schlecht sie es haben. Arbeiten unter diesen Bedingungen kann kein gesundes Arbeits- und Lernumfeld erzeugen, und so benötigt Schule ein Umdenken – hin zum Menschen, zu jedem einzelnen wertvollen Teil im System! Dann wiederum benötigt es Heilung, damit wieder neue und belebende Energie dort hineinfließen kann.

Ich weiß: Es gibt auch dort viele Kolleg:innen, die geben jederzeit ihr Bestes und sind motiviert, ihren Teil dazu beizutragen, die Welt besser zu machen. Die Unterstützung für solche Lehrerengel ist allerdings so gering, dass ihre Kräfte irgendwann nachlassen. Schule muss gesunden, um alle darin gesund und stabil zu halten. Auch die Waldorfschule ist nicht das Paradies – aber sie wird besonders dadurch, dass viele Menschen versuchen, die Welt jeden Tag ein bisschen heller zu machen. Zurück zu meiner Klasse: Wir sind gerade in der Schreibepoche. Nacheinander erarbeiten wir die neuen Buchstaben mit einer Geschichte, schreiben und üben. Die Kinder freuen sich, suchen Wörter mit dem neuen Buchstaben und malen das Bild dazu mit strahlenden Augen in ihr Heft. Einige Kinder der Klasse können schon ein bisschen lesen, einige noch nicht. Das macht nichts, das zweite Schuljahr gibt uns die Ruhe, uns damit zu beschäftigen. Die Kinder lernen nicht der guten Noten willen, sondern um als Mensch jeden Tag ein wenig mehr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erlangen. Wenn ich an meine alte Schule und deren Kinder denke, weiß ich – wir werden alles benötigen, was wir uns an Fähigkeiten und Geschick aneignen können, um die Welt weiterhin lebenswert zu gestalten.

Meine neue Schule weiß das ebenso. Wir bei Waldorfs sind anders – egal wie jede Schule es konkret macht, wir sind von einem Geist beseelt, der uns antreibt. Jede/r ist jeden Tag da, mit offenen Ohren und Herzen, wir sind im Gespräch miteinander: Lehrer:innen, Schüler:innen und Eltern. Wir wünschen es uns gut. Für uns alle kümmern wir uns um unseren kleinen Teil der Welt und schaffen so eine lebendige Schule mitten in einer bedürftigen Zeit. Die Kinder, die wir erziehen, müssen in der Lage sein, sich gut um die Welt zu kümmern, die wir ihnen hinterlassen. Wenn ich dabei helfen kann, habe ich den richtigen Weg eingeschlagen. Das spiegelt sich jeden Morgen in den Gesichtern der Kinder meiner Klasse. Bis heute habe ich noch keine Sekunde meines Arbeitsplatzwechsels bereut.

Dieser Text wurde für die Erziehungskunst gekürzt. Den Beitrag in voller Länge erhalten Sie, wenn Sie die Autorin per E-Mail darum bitten.

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.