Die Welt – ein Modell?

Stephan Sigler ist Dozent für Mathematik, Geographie und Grundlagen der Waldorfpädagogik am Lehrerseminar Kassel sowie Lehrer für die Mittel- und Oberstufe an der Freien Waldorfschule Kassel

EK | Die Mathematik stand historisch in enger Beziehung zur Astronomie. Hat sie auch mit dem »Himmel« als geistigem Erfahrungsraum des Menschen zu tun?

Stephan Sigler | Wenn man heute auf die moderne Astronomie blickt, ist sie im wesentlichen eine Physik, die sich am Ende in Mathematik auflöst. So sind Planetenbahnen schon lange prinzipiell berechenbar und fernliegendere »Phänomene« wie schwarze Löcher erklären sich mit Differenzialgleichungen. Ausgehend von der Antike gibt es da natürlich völlig andere Traditionslinien des Denkens, die viel mehr von den Erscheinungen des Sternenhimmels und seiner Wirkung auf den Menschen ausgehen. Interessanterweise ist das auch an Schülern erlebbar, die beispielsweise in der 10. Klasse im Vermessungspraktikum vielleicht das erste Mal in ihrem Leben bewusst den Sternenhimmel betrachten. Sie legen sich dann auf den Rücken und werden still. Und in der Tat: Lässt man sich auf eine solche Beobachtung ein, ist es fast unumgänglich, so etwas wie Ehrfurcht vor der Erhabenheit des Anblicks zu empfinden.

EK | Ist das nicht nur ein subjektives Gefühl?

StS | Ja, natürlich ist das subjektiv, aber nur insofern subjektiv, als es ein Subjekt empfindet. Historische Tatsache ist aber, dass durch alle Kulturen hindurch die Erscheinungen des Himmels immer als direkte Ausprägung einer mathematischen Ordnung göttlichen Ursprungs angesehen wurden, in der der Mensch sich verorten konnte. Der Kosmos und damit natürlich auch der Mensch wurde, wenn man so will, weisheitsvoll als von Mathematik durchwirkt erlebt, die ihren ästhetischen Ausdruck beispielsweise in der Vorstellung der Sphärenharmonie fand. Die harmonische Ordnung des Kosmos findet ihren direkten Niederschlag in der Musik schon in der Antike bei Pythagoras, dann aber auch natürlich bei Kepler oder in der achten Symphonie von Gustav Mahler, von der er schrieb, dass in ihr das Universum, die kreisenden Planeten und Sonnen, zu tönen und zu klingen beginnen. Immer steht der gestirnte Himmel als Bild und Metapher für die Gesetzlichkeit der Welt im Hintergrund, die heute zu nüchternen Naturgesetzen geworden ist.

EK | Und diese Gesetzlichkeit der Welt erleben die Schüler in der Mathematik?

StS | Zunächst erleben sie im Rahmen der Mathematik, dass es unbezweifelbare gedankliche Zusammenhänge gibt. In der Mathematik gibt es keinen Meinungsstreit über die Gültigkeit von mathematischen Aussagen. Alle Mathematiker sind davon überzeugt, dass eine Letztklärung erfolgen kann und auch erfolgen wird. Das sei alles nur eine Frage der Zeit. In der Mathematik gibt es also ganz offensichtlich so etwas wie einen gemeinsamen »Himmel«, einen einheitlichen Erfahrungsraum des Menschen.

EK | Mathematik als Offenbarung? Das würde ja im konkreten Unterricht bedeuten, dass der Lehrer die Mathematik nur gut erklären müsste und die Schüler würden dann diesen Erklärungen folgen. Das scheint doch ein sehr altertümliches Bild von Mathematikunterricht zu sein.

StS | Das entscheidende an der Sache ist, dass die Schüler die Mathematik erst hervorbringen müssen, bevor sie Gegenstand der Betrachtung werden kann. Das bedeutet, dass alle mathematischen Phänomene erst durch die eigene Tätigkeit, durch geometrische Vorstellungsbildung erzeugt werden, die durch sogenannte »Vorstellungsübungen« angeleitet werden, oder durch Ausführen von Rechnungen, die entsprechend arrangiert sind. Das »Erfahrungsmaterial« ist der Vollzug der eigenen inneren Bewegungen, die Ordnungen, Muster und Gesetze real hervorbringen, die dann entdeckt, systematisiert und allgemein in symbolischer Sprache formuliert werden können. Aber zuerst braucht es diese erste Berührung mit der hervorgebrachten Mathematik, in der sich Schönheit und Harmonie zeigt. Diese Methode kann man sehr schön mit dem Physikunterricht vergleichen: Erst zeigen sich durch Experimente Erscheinungsreihen, die dann am nächsten Tag auf ihren gesetzlichen Zusammenhang befragt werden. Eigentlich ist das ein explorierendes Vorgehen, das aber durch die Inszenierung der Experimente bzw. der Vorstellungsbildungen oder Rechnungen so geführt wird, dass sich Wesentliches in den Erscheinungen aussprechen kann.

EK | Rudolf Steiner bezeichnete die Mathematik auch als »Vorschule der Geisterkenntnis«. Können Sie das erläutern? Spielt dieser Aspekt im Unterricht eine Rolle?

StS | Rudolf Steiner hat einen Weg aufgezeigt, der durch innere, meditative Arbeit zur Erkenntnis nicht sinnlich erfassbarer Vorgänge und Dinge führen kann. Nun beschreibt Mathematik aber einen Gegenstandsbereich, der genauso ist: nicht durch sinnliche Wahrnehmung erfassbar! Mathematik ist immer nur Gedanke, nie sinnliches Ding. Wir meinen zwar, wir sähen einen Kreis, wenn einer auf der Tafel gezeichnet wird; was wir aber sehen, ist weißer Kreidestaub. Wenn wir aber das »Kreisige« des Kreises denken, kann man zum Beispiel zu folgender Formulierung kommen: »Der geometrische Ort aller Punkte, der in einer Ebene gleich weit von einem Punkt entfernt ist, ist ein Kreis«. Es gibt natürlich sehr viele andere Möglichkeiten das »Kreisige« des Kreises zu formulieren: Alle Formulierungen deuten auf einen charakteristischen Gedankenzusammenhang, den »Begriff« des Kreises. Es geht nicht um die Bezeichnung, sondern um diesen »Begriff«, also um das »Wesen«, das »Kreisige« des Kreises. Der Begriff kann nur vom Denken hervorgebracht werden. Ein individueller Erkenntnisakt muss vollzogen werden, der etwas in den Blick nimmt, was nicht sinnlich erfassbar und – wie oben ausgeführt – universell gültig ist. Alle mathematischen Gegenstände sind so geartet. Selbst einfache Zahlen wie die Drei sind geistige Schöpfungen des Menschen: die Drei liegt nicht in den drei Stühlen, die ich unter Umständen wahrnehme – das sind einfach nur Stühle, sondern in mir selbst, der ich gerade die drei Stühle gedanklich zu einer Einheit zusammenfasse. Bei der Einführung der negativen Zahlen in der 7. Klasse wird das noch viel deutlicher. Hier gibt es zwar für die Addition und Subtraktion im Bereich der Schulden noch eine Brücke zum Alltag, bei der Multiplikation bricht sie aber schon zusammen: Was soll das inhaltlich heißen, wenn man (-2) mal (-3) rechnet? Noch offensichtlicher wird die Sache, wenn es um Fragen des Unendlichen geht, die in der elften und zwölften Klasse im Rahmen der projektiven Geometrie und der Analysis die inhaltlichen Schwergewichte darstellen. Unendlichkeit ist ja gerade dadurch charakterisiert, dass sie sich nicht in Raum und Zeit realisieren kann.

EK | Dann wäre in dieser Hinsicht die Projektive Geometrie wichtig, die ein Proprium der Waldorfschule darstellt. Was ist das Charakteristische an dieser Epoche in der 11. Klasse?

StS | Dass es ein Proprium sei, ist mehr Wunsch als Realität. Viele Lehrer in der Oberstufe der Waldorfschulen haben keine waldorfpädagogische Zusatzqualifikation erworben, obwohl es praktikable berufsbegleitende Angebote gibt. Insofern ist dieses Themengebiet für viele fremd und wird angesichts des gefühlten und realen Drucks zentraler Abschlussprüfungen schlichtweg nicht unterrichtet. Das ist außerordentlich bedauerlich, weil diese Epoche zu den echten Highlights gehört, gerade auch für Schüler, die man als mathematikferner bezeichnen würde.

Ich möchte nur einen pädagogischen Aspekt herausgreifen: In der projektiven Geometrie können Denkformen geübt werden, die über die mathematische Kompetenzbildung im engeren Sinn weit hinausgehen. Wir sind als Menschen seelisch-leiblich so verfasst, dass wir in erster Linie die Wirklichkeit aus kleinsten Teilchen aufgebaut denken. Das ist völlig natürlich. Eine Gerade wird aus Punkten zusammengesetzt, die Zahl 12 besteht aus zwölf Einheiten und die ganze Welt setzt sich aus kleinsten Teilchen zusammen. Kochsalzkristalle beispielsweise bilden sich aus aneinandergefügten Natrium-Chlorid-Molekülen. Die geometrische Struktur dieser Moleküle wird verantwortlich dafür gemacht, dass Kochsalz als Kristall in kubischer Form vorliegt (vgl. Abbildung 1 und 2). Die Kristallographie beschäftigt sich mit der Klassifizierung aller Kristallformen, die es gibt. Dabei gibt es interessanterweise auch alle Formen, die mathematisch möglich sind. Nun kann man in der projektiven Geometrie durch das Dualitätsprinzip die Welt der Punkte im Raum mit der Welt der Ebenen ergänzen. Was in der einen Welt gilt, gilt dual – alltagssprachlich würde man vielleicht auch komplementär sagen können – auch in der anderen. Wenn man also in der uns geläufigen Punktwelt einen Salzkristall aus Atomen aufbaut, kann man dual dazu den Kristall auch durch Ebenen einhüllen. Wachstum in der Punktwelt vom Mittelpunkt nach außen entspricht in der Ebenenwelt Bildung von außen nach innen aus der unendlichen Peripherie zu den Kristallflächen hin. Die Punkte des Kristalls haben ihr absolut Inneres im Mittelpunkt, die Ebenen des Kristalls dagegen haben ihr absolut Inneres in der unendlichen Peripherie, die in der projektiven Geometrie als unendlich ferne Ebene gedacht werden muss (vgl. Abbildung 3 und 4). Die Dualität garantiert, dass die Welt der Punkte und der Ebenen strukturgleich ist. Ob man in Punkten formuliert oder in Ebenen - man erhält dieselbe Struktur. Die ganze Kristallographie kann auch in der Ebenenwelt formuliert werden.1 Vom mathematischen Standpunkt aus gibt es überhaupt keinen Grund, von Punkten – also Atomen auszugehen. Absolut genauso berechtigt wäre eine Formulierung, die von Ebenen ausgeht. Da können sich schon Fragen anschließen, welchen Wirklichkeitsbereich man mit dieser Denkform in Ebenen berührt. Mathematik wird so ein Übungsfeld für Denkformen. Aber dass das absolut Innere mit der unendlichen Peripherie korrespondiert, ist natürlich schon ein starkes Bild für das Eingebundensein des Menschen in den Kosmos.

EK | Solche geistigen Dimension der Mathematik sind heute eher ihrer praktischen Anwendung gewichen, z.B. in der Statistik oder der Computertechnologie, sogar in der medizinischen Forschung. Alle Welt spricht heute von Algorithmen und Wahrscheinlichkeiten. Setzt sich der Mathematikunterricht an Waldorfschulen mit diesen praktischen Anwendungen der Mathematik – möglicherweise kritisch – auseinander?

StS | Lebenskunde muss aller Unterricht werden, ist eine sehr frühe Forderung Steiners. Das Flaggschiff in dieser Richtung ist das Vermessungspraktikum in der zehnten Klasse: Gut ausgedacht und stringent geplant kann die Fülle der räumlichen Erscheinungen eines Landschaftsausschnitts durch messenden und rechnenden Zugriff in eine Karte gebändigt werden. Dabei kann die Einseitigkeit dieses Zugriffs anhand der geschlagenen Visierlinien, Geräte und Vermessungsstäbe im Kontrast zu einer schönen Landschaft stark erlebt werden. Dieses Erlebnis ist wichtig. In anderen Bereichen fehlen leider solche Ideen zu einem lebenskundlichen Ansatz – hier muss noch viel entwickelt werden. Das was heute aus der universitären Didaktik in den neuen Schulbuchgenerationen publiziert wird, ist meines Erachtens nicht überzeugend, da unreflektiert dazu aufgerufen wird, die ganze Welt in mathematischen Modellen zu formulieren und mathematische Operationen anzuwenden, um dann die erhaltene Lösung wieder in die Welt zu übertragen. Der Sinnkontext und die möglichen moralischen Implikationen einer solchen mathematischen Lösung können schon deshalb nicht gewürdigt werden, weil man im Kern immer davon ausgeht, dass eine Lösung etwas Wesentliches darstellt – schließlich hat man sie ja deswegen ausgerechnet! Da die Lösung durch Mathematik gewonnen wurde, kann sie nun kaum mehr bezweifelt werden und genießt deshalb einen fast unangreifbaren Status. Das halte ich für eine gesellschaftlich gefährliche Entwicklung, weil das Urteilsvermögen des Menschen durch sie entmündigt wird. Andere Wirklichkeitsbereiche werden völlig ausblendet.

Das Interview führte Mathias Maurer

1. Vgl. Ziegler, Renatus (1998): Morphologie von Kristallformen und symmetrischen Polyedern. Kristall- und Polyedergeometrie im Lichte von Symmetrielehre und Projektiver Geometrie. Dornach: Verlag am Goetheanum (Mathematisch-astronomische Blätter. Neue Folge, Bd. 21)