Die Welt funktioniert auch anders. »Schule und Beruf« in Nepal

Renatus Derbidge

Einfach stur weiterlaufen

Schon ein Jahr vor der Reise begannen wir mit den Vorbereitungen. Wir verkauften Produkte der Shanti Sewa Griha-Initiative in Kathmandu, die von Leprakranken hergestellt werden, unternahmen Spendenaktionen für die Bäume, die wir im erosionsgefährdeten Gelände einer waldorfinspirierten Schule pflanzen wollten und setzten uns mit der »anderen« Welt Nepal auseinander.

Kathmandu, Nepals Hauptstadt, erwies sich als Herausforderung: Die Straßen waren mit Bussen, Taxen, Horden von Mopeds und Motorrädern, Fahrrädern, Straßenhändlern und Kühen verstopft. Der Smog reizte die Atemwege. Der Trubel der Passanten in ihren bunten Kleidern war schön anzusehen, all die fröhlichen Menschen, das war schon chaotisch genug.

Der Verkehr, der von Sonnenaufgang bis kurz nach Sonnenuntergang gnadenlos rotiert, wird von einem ständigen Hupkonzert begleitet. Ein Nepali gab uns zu verstehen: »Nepali haben es nie eilig, außer wenn sie im Auto sitzen«. Doch wir lernten schnell: Einfach stur weiterlaufen! Neulinge erkennt man daran, dass sie nach rechts und links schauen, bevor sie die Straße überqueren – Einheimische gehen einfach. Es passiert nie etwas. Das Hupinferno funktioniert als eine Art akustisches Fühlersystem: »Hallo, hier bin ich«. So hat jeder, ohne zu schauen, ein dreidimen­sionales Bild der Verkehrssituation um sich herum.

Wer Bäume kaufen will, muss Zeit haben

Unsere geplante Arbeit konnten wir erst nach einigen Prüfungen leisten. Geprüft wurde unser Einfühlungsvermögen und unsere Anpassungsfähigkeit, das Vermögen, unsere mitteleuropäisch geprägten Vorstellungen aufzulockern, nicht nur zu wollen, sondern auch wahrzunehmen. Denn in Nepal ist alles anders.

Einen Tag verbrachte ich auf dem Rücksitz des Motorrads des Gärtners von »Shanti« auf der Suche nach Bäumen. Baumschulen, etwa 40 Quadratmeter große Brachflächen mit gezüchteten Zierpflanzen gibt es viele. Nur, wenn man nicht weiß wo, findet man sie nicht, so versteckt liegen sie. Zudem wollten wir »Fruit-Trees«, und das musste erklärt werden. Eine Stunde »Gespräch« gehört dazu, eine zweite Gesprächsstunde mit den zu Rate gezogenen Fachmännern, Dorfältesten und Schaulustigen ebenfalls. Eine Vorauswahl wurde getroffen, über den Preis vorverhandelt. Am nächsten Tag musste das Ganze noch mal bestätigt werden: »Ja! Wir wollen wirklich kaufen«. Am dritten Tag wurde ein Einheimischer rausgeschickt, um die Bäume abzuholen. Hätte ich es gemacht, wäre es preisgünstiger gewesen, die Bäume aus der Schweiz zu importieren. »Weißnasen« werden grundsätzlich abgezockt, mit einem freundlichen Lächeln natürlich. Am vierten Tag kamen die Bäume dann tatsächlich in der Schule von Shanti außerhalb der Stadt am Rande eines Berges mit gefährdeter Hanglage an. Bäume stabilisieren den Boden, ein Sanitäranlagen-Haus drohte bereits mit dem nächsten kräftigen Monsunregen gen Tal zu wandern.

Jeder will seinen eigenen Baum

Die Pflanzaktion gehörte zu den eindrücklichsten und schönsten Erlebnissen. Waren wir durch das viele Warten schon etwas ermüdet und demotiviert, ging es dann plötzlich sehr schnell.

Mit dem Dorfvorsteher wurden die Pflanzorte ausgemacht. Unser Vorhaben sprach sich blitzschnell herum und plötzlich war das ganze Dorf versammelt. Neugierig schauten die Bewohner unserem Treiben zu, es wurde diskutiert, gekeift und gemurrt. Dann wurde es stiller. Unser Arbeitseifer steckte an und, ohne dass wir viel protestieren konnten, nahmen sie uns Schippe, Hacke, Bäume ab und spritzten auseinander. Viel Zeit zum verdutzt Dreinschauen blieb nicht, nun hieß es, in einer Blitzaktion die Bäume retten. Fast waren die ersten Bäume schon gepflanzt, jeweils vor der Hütte des »Helfers«. Unsere Aktion schien uns zu entgleiten. Ich musste sehr deutlich werden, dirigierte jeden Baum an den vorgesehenen Platz und eroberte einige Bäume zurück, so dass wir auch selbst noch welche pflanzen konnten. Ich versuchte zu erklären, dass ein Baum nicht gepflanzt sei, wenn er nur irgendwie im Boden steckt, sondern dass die ausgemergelte Erde zuerst mit Kuh- und Ziegendung sowie Asche vermengt und damit die Grube ausgefüllt werden muss, in die der Baum gesetzt wird. Zum Glück kamen jetzt die Frauen zur Hilfe, die sofort verstanden, worum es ging und die Männer im Griff hatten. Sie sorgten dafür, dass die Bäume vorbildlich gepflanzt wurden. Nach 30 Minuten waren die Männer schon wieder am Dorfplatz. Die Frauen und wir schlossen die Arbeit ab und schleppten Wassereimer zum Angießen. Da machte sich Unruhe breit. Die Schulleiterin musste uns das übersetzen: »Es ist heiß, wir haben geholfen, wir hätten gerne ein kühlendes Getränk«. Der Spaß endete also mit einer »Cola-Party« auf unsere Kosten und alle waren glücklich. Mit den kleinen Shanti-Schülern verlief die Pflanzaktion deutlich entspannter. Jeder Schüler bekam einen kleinen Orangensetzling. In Reih und Glied, vorsichtig und stolz, wie bei der Einschulung, standen sie da und warteten, bis sie an der Reihe waren, die jungen Pflanzen zum Anziehen auf einer Terrasse anzupflanzen. Beim Pflanzen wurde deutlich: Obwohl die Schüler für uns alle ähnlich, eben nepalesisch aussehen, gibt es auch in Nepal vier Temperamente – die einen machen es entschlossen und zackig, andere flüchtig, und wieder andere konnten sich kaum trennen von ihren Bäumchen.

Weltinteresse ernst genommen

Unsere Unternehmung hat einige Anfeindungen erfahren. Verständnis für Sinn und Zweck solch einer Reise hat nicht jeder. Natürlich gibt es viele Möglichkeiten, sich auch vor der Haustüre sinnvoll sozial zu engagieren. Die Erfahrung zeigt aber, dass solch eine Erfahrung ein wirklicher Türöffner, nein mehr, ein Schubser über die Schwelle in die Welt hinein ist – der von den Schülern dankbar angenommen wird. Gerade unsere wohlbehüteten Schweizer »Kinder«, die – trotz Waldorf und Bildungsmittelstand – eine recht begrenzte Weltsicht haben, kommen als veränderte Menschen zurück. Sie blicken voller Mut und Zuversicht in die Welt. Weltinteresse lässt sich eben nicht alleine im Klassenzimmer wecken, die Welt muss erlebt, das Interesse praktiziert werden. Und die Schüler konnten bemerken, dass jeder von ihnen einzigartige Qualitäten hat, die – egal wo er sich auf der Welt befindet – immer gefragt sind, wenn man es schafft, sie einzubringen.

Zudem haben die Schüler mit dem Lehrer zusammen das Geld für die Reise selbst erwirtschaftet. Sie wurden in die Verantwortung genommen und verfolgten ein selbstgesetztes Ziel, statt eine »aufoktroyierte« Reise zu absolvieren. Bei »Schule und Beruf« ist solch ein Sozialpraktikum in einem anderen Kulturkreis fest im Programm, ich möchte aber jeden ermutigen, solche Projekte mit Oberstufenschülern zu wagen. Denn neben den Lebenserfahrungen, die man sammelt, macht es auch Spaß – nicht nur den Schülern!

Link: www.schuleundberuf.ch