Die Welt in meiner Hand

Ute Stockinger-Seitz

Es ist Montagmorgen. Ich stehe im Klassenzimmer der dritten Klasse. Noch ist es still. 36 Tonklumpen liegen bereit, einer für jedes Kind. Die Schüler strömen herein und schon füllt sich der Raum mit ihren Stimmen. Lachen und laute Rufe ertönen, aber nicht alle scheinen gut aufgelegt. So mancher wirkt müde oder überdreht.

Die Kinderaugen spiegeln Facetten ihrer Gemütslagen wider: neugierige, offene, temperamentvolle, aber auch abwesende und verschlossene Blicke. Und all diese Kinder gilt es, nun zu fassen, wieder ankommen zu lassen und nach einem oftmals überfrachteten Wochenende wieder aufnahmefähig zu machen für den Unterricht.

Wie groß diese Herausforderung ist, merke ich schon nach den ersten Rufen. »Was tonen wir heute?« Gleich wollen sie diese Frage selbst beantworten: »Roboter«, »Flugzeug«, »Burg«, »Monster«, alles in der Vorstellung schon fertig ausgeformt. Diese »Kopflastigkeit« der Kinder, ihre visuelle Prägung, lässt mich befürchten, dass sie sich nicht auf den tastenden Übungsverlauf einlassen werden. Sie scheinen etwas Handfesteres zu brauchen.

Es wird nicht darum gehen, sie etwas nachformen oder ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen, wie etwa bei den Farbengeschichten des Aquarellmalens. Ich will sie zu differenzierten Bewegungen der ganzen Hand anleiten und ermutigen, sich auf einen Prozess einzulassen, frei von einschränkenden Vorstellungen. Sie sollen den Ton in Übungsreihen bearbeiten, immer von einer Kugel ausgehend. Durch die Metamorphose der Grundform sollen sie – rein über das Tun – zu verschiedenen neuen Formen finden. Anders als beim Nachformen von Vorgestelltem sollen sie ein lebendiges, unmittelbares Formgefühl ent­wickeln.

Feste Vorstellungen werden frei

Wie leicht sich die Kinder tatsächlich von ihren Vorstellungen lösen können, zeigt mir schon das anfängliche Durchkneten des Tones. Sie greifen mit Begeisterung zu, ihrem Temperament entsprechend. Einige berühren den Klumpen nur zart, streicheln ihn fast, andere bohren voller Kraft und Energie ihre Finger hinein. Es scheint, als ob das Wochenende mit verarbeitet würde.

Die unterschiedlichen Bedürfnisse der Temperamente bahnen sich ihren Weg: Ein phlegmatisch wirkendes Mädchen greift genussvoll mit beiden Händen in den feuchten Ton, während ein sanguinisch veranlagter Junge seinen Ton mit den Fingerspitzen zerpflückt. Je weiter die Übung voranschreitet, desto mehr versinken die Schüler in ihrem Tun, geben sich dem Schaffensdrang ihrer Hände hin. Sie

folgen vertrauensvoll meiner Anleitung, die Augen zu schließen, werden ruhig und an ihrer Mimik ist abzulesen, dass sie das Tasterlebnis genießen. »Jetzt kann ich ja mehr fühlen!«, äußert spontan und verwundert ein Junge, der sich bisher kaum bemerkbar gemacht hatte. Als sie auf meine leise Aufforderung hin die Augen wieder öffnen, betrachten sie mit einem wachen, klaren Blick die entstandene Form in ihrer Hand, überrascht, dass bei allen, wie fast von selbst, das Gleiche entstand. Der Moment, als ich herumgehe, den Blickkontakt jedes Einzelnen suche, sie oder ihn lobe und ermutige, die Formen sanft zu korrigieren, ist von großer Intensität getragen. Ich erlebe die Kinder in Ruhe, wieder bei sich selbst angekommen. Ein entspannter Zustand, der die Schüler für das weitere Unterrichtsgeschehen aufnahmefähig macht. Am darauf folgenden Montag wiederholen wir das Plastizieren einer Kugel und formen sie dann langsam und mit geschlossenen Augen in ein Oval um. In der dritten Woche werden die Kinder – immer von Neuem von der Kugel ausgehend – über das Oval zur Metamorphose der Sattelbildung geführt. Während all dieser Übungen wird ganz aus dem Tasterlebnis, aus dem unmittelbar erlebten Tun gearbeitet.

Plastizieren harmonisiert den Willen

Dass ein seelisches »Ankommen« der Kinder schon durch 20 Minuten methodischen Plastizierens möglich ist, überrascht mich jedes Mal, bestätigt aber auch, was sich im Gespräch mit Fachleuten der verschiedenen pädagogischen und therapeutisch-medizinischen Richtungen sowie in der eigenen bildhauerischen Arbeit zeigt. Die heutige Zeit verlangt ein neues Hinschauen auf die Möglichkeiten, die Waldorflehrern als pädagogische Mittel an die Hand gegeben sind: Insbesondere gilt dies für das elementare plastische Gestalten, das im Gegensatz zu anderen Künsten keinen festen Platz im Unterrichtsgeschehen hat.

Dass es jedoch einen festen Platz in den künstlerischen Übungen der unteren Klassen der Waldorfschule haben sollte, um dort das Malen und das Zeichnen als dritte Kunstart zu ergänzen, zeigt seine menschenkundliche Wirkung: Denn das Zeichnen wirkt auf die Vorstellungskräfte, das Malen auf das Gefühl und das Plastizieren auf die Willenskräfte und harmonisiert sie (Eva Mees-Christeller). Daher forderte Rudolf Steiner neben dem Wasserfarbenmalen und Formenzeichnen auch das Plastizieren schon für Grundschüler: »Plastisches soll vor dem neunten Jahre beginnen, Kugeln, dann anderes und so weiter. Auch beim Plastischen soll man ganz aus der Form heraus arbeiten.«

Aus Steiners Sinneslehre geht hervor, dass das Tasterlebnis mit der ganzen Hand, auch der Handinnenfläche, Voraussetzung für die Ich-Entwicklung ist. Die Erfahrung des Tastens hilft, sich des Daseins zu vergewissern und stärkt das Existenzvertrauen. Dadurch werden wir uns unseres leiblichen Selbstes bewusst – was den Grund des Ich-Sinnes legt und es ermöglicht, andere Menschen wahrzunehmen.

Den Kindern heute mangelt es oft an einem gut entwickelten Sinnessystem. Und obwohl dieser Mangel vielen Waldorflehrern bewusst ist, hat die heilende Kraft des elementaren Plastizierens noch keinen Platz als gegensteuernde Maßnahme im Lehrplan für die ersten Klassen gefunden. Zwar begründete Hella Löwe die Bedeutung des Plastizierens für die Pädagogik der unteren Klassen und begann in den 1980er Jahren als Klassenlehrerin einen eigenen plastischen Übungsweg zu entwickeln, doch wurde ihr Ansatz nicht als grundlegendes Element in die Klassenlehrerausbildung oder in den Lehrplan aufgenommen. Dabei müsste gerade heute das methodische Plastizieren schon in den ersten drei Schuljahren ganzjährig und wöchentlich durchgeführt werden, bis dann in der vierten Klasse das gegenständliche Plastizieren dazu kommen kann. Denn die Konstitution vieler Erstklässler zeigt, wie sehr sie des Haltes, der Ordnung und Struktur bedürfen.

Heilen durch die Hände

Rudolf Steiner musste zu seiner Zeit noch nicht von sich körperlich manifestierenden Symptomen wie Allergien, Neurodermitis oder ADHS ausgehen. Doch sein Gedanke, dass das Erziehen einem Heilprozess gleiche, ist aktueller denn je. Durch die Einbindung des elementaren plastischen Gestaltens in den Unterricht wird den Kindern die Erfahrung ermöglicht, mit sich selbst auf neue Weise in Kontakt zu kommen. Die »Hülle« wird gestärkt, Regeneration und aufbauender Schutz werden angeregt, wodurch sie sich in ihrer Haut wieder wohler fühlen können. Die Versenkung der Konzentration in die Hände entlastet die mit Bildern überfüllten Kinderköpfe, das Gemüt kommt zur Ruhe. Es entsteht ein unsichtbares Band, bei dem der Lehrer die vollständige Präsenz seiner Schüler spürt und diese sich von ihm ebenso vollständig wahrgenommen fühlen können.

Dieser »goldene Moment« schafft eine Atmosphäre des Vertrauens, die das weitere Unterrichtsgeschehen tragen kann. Doch erst durch wöchentliches Üben kann sich die stärkende Wirkung des methodischen Plastizierens voll ent­-falten. Denn wie bei allen Schulungen bedarf es der Regelmäßigkeit und der rhythmischen Wiederholung – im Falle des plastischen Gestaltens am besten montags, durch das ganze Schuljahr hindurch. Das seelische Einatmen am Wochenbeginn kann den Kontrapunkt setzen zum seelischen Ausatmen beim Wasserfarbenmalen am Ende der Woche: Neben dem ausfließenden Malen mit der Nass-in-Nass-Technik steht das sammelnde, formende Plastizieren mit dem irdischen Ton.

Der Beitrag fusst auf einer Diplomarbeit, die an der Freien Hochschule Stuttgart, Seminar für Waldorfpädagogik eingereicht wurde.

Literatur:

Hella Löwe: Elementares plastisches Gestalten. Willensbildung durch Formerfassen in den ersten drei Schuljahren, Stuttgart 2004

Eva Mees-Christeller: Kunsttherapie in der Praxis, Stuttgart 1988

Rudolf Steiner: Erziehungskunst. Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge, GA 295, Vortrag vom 6. September 1919, Dornach 1984

Link: margarete-stoess.de