Die Welt unter dem Kopftuch. Ein Selbstversuch

Anna Magdalena Claus

Jetzt, wo es schon so warm ist, habe ich Lust, alle meine Sommerkleider auf einmal anzuziehen. Das Warten hat endlich ein Ende und die Menschen zieht es in die Parks und Cafés. Mit dem Anziehen meiner kürzesten Hosen muss ich aber noch einen Tag warten. Nicht weil das Wetter schlecht ist, sondern weil mir heute ein Selbstversuch mit dem Kopftuch bevorsteht.

Wenn die meisten Menschen viel Haut zeigen, fallen mir die kopftuchtragenden Muslima besonders auf. Wie fühlt sich das Tragen eines Kopftuchs an? Ist es nicht sehr heiß? Das und mehr möchte ich heute herausfinden. Ich werde also mein »Tuch tief über mich ziehen«. (»Sie sollen ihre Tücher tief über sich ziehen. Das ist besser, damit sie erkannt und nicht belästigt werden«, Sure 33, Vers 60). So »verkleidet« werde ich mich durch Stuttgart bewegen, U-Bahn fahren, essen gehen, einkaufen, über den Wasen schlendern. Was aber erwarte ich von diesem Experiment? Erwarte ich offenes Unverständnis oder betonte Toleranz? Wie werde ich mich fühlen? Eingeschränkt, frei, exotisch?

Ich versuche gar nichts zu erwarten, mit unvoreingenommenen Blick den Tag zu beobachten. Dass das unmöglich ist, merke ich sehr schnell.

Ich sitze in der U-Bahn und kann die Fahrt zum Charlottenplatz nicht wie sonst entspannt genießen. Jeder meiner Blicke bekommt Bedeutung, jede Handlung, Geste, Bewegung wird von mir kontrolliert. Ich komme mir vor wie eine Mogelpackung. Auf meinem Etikett steht Dattel, aber eigentlich bin ich ein deutscher Kohlkopf. Diese erschwindelte Zugehörigkeit, die ich automatisch mit meinem rosafarbenen Kopftuch eingehe, wird mich den ganzen Tag beschäftigen und in prekäre Situationen bringen.

Soll ich wie sonst Blickkontakt zu anderen Menschen suchen? Darf ich lächeln? Die wichtigste Frage aber: Warum mache ich mir darüber so viele Gedanken?

Ich gehe davon aus, dass jede meiner Handlungen von den Mitmenschen genauestens wahrgenommen wird und stellvertretend für andere Muslime gilt. Mit meiner Kopfbedeckung repräsentiere ich angeblich eine Weltreligion, vielleicht ist es das, was mich unter Druck setzt. Dabei kann ich nicht einmal sagen, ob ich mit besonderer Aufmerksamkeit gemustert werde. Mir kommt es jedenfalls so vor, als ob ich nicht nur für mein eigenes Tun verantwortlich bin, sondern darüber hinaus für viele muslimische »Gleichgesinnte«. Was für ein ungewöhnliches Gefühl! Nicht die individuelle Persönlichkeit steht im Vordergrund, sondern die Religionsgemeinschaft. Was für ein vertrauensvolles und Sicherheit gebendes Gefühl auf der einen Seite, was für eine Einschränkung und gefühlte Machtlosigkeit auf der anderen.

Ich komme am Charlottenplatz an und spaziere anschließend über den Schlossplatz. In einem Café bestelle ich mir gerade ein Tiramisu, als der sympathische Kellner mich dezent darauf aufmerksam macht, dass Gelatine im Tiramisu enthalten sei. Er sagt: »Ich bin auch Moslem, deswegen sag ich dir Bescheid. Sei mir deshalb nicht böse.« Die Situation beginnt mir unangenehm zu werden, als er sich bei mir erkundigt, ob ich Türkin sei. »Nein«, antworte ich, »aber meine Mutter«. Der Kellner lächelt und macht mir ein Kompliment. Ich lächle geschmeichelt zurück, möchte aber am liebsten sofort aufstehen und gehen. Die Lüge macht mir ein schlechtes Gewissen. Ich komme mir falsch vor, ich betrete ein Gebiet, wo ich nicht hingehöre. Ich habe mir zwar vorgenommen, von meinem Experiment zu erzählen, wenn ich auf mein Kopftuch angesprochen werde, im Fall des muslimischen Kellners kommt mir diese Auflösung aber sehr unpassend vor. Immer deutlicher wird mir klar, dass diese Kopftuch-Erfahrung, die ich mache, nahezu nichts mit dem Alltag kopftuchtragender Frauen in Stuttgart zu tun hat. Das zu behaupten, wäre meiner Meinung nach anmaßend.

Ich verlasse das Café und schlendere durch die Königsstraße Richtung Hauptbahnhof. Ich betrete verschiedene Läden und habe trotz der schönen Sommerkleider (die ich auch wirklich brauchen könnte), keine Lust, sie anzuprobieren. Mit dem Kopftuch wäre mir das zu kompliziert, ich bin froh, dass es, ohne zu verrutschen, um meinen Kopf gehüllt bleibt, obwohl es mir darunter sehr warm wird. An die Hitze müsste ich mich also gewöhnen, hätte ich die Entscheidung gefällt, von nun an für immer in der Öffentlichkeit ein Kopftuch zu tragen. Man muss sich daran gewöhnen wie an das Tragen unbequemer hoher Schuhe oder String-Tangas. Ausnahmsweise muss ich mich überwinden, über das Frühlingsfest auf dem Cannstatter Wasen zu schlendern. Ich komme mir fehl am Platz vor und freue mich über jede der drei kopftuchtragenden Frauen, die mir begegnen. Trotzdem würde ich am liebsten gleich wieder nach Hause fahren. Aber ich motiviere mich, indem ich mir am Schießstand fünf Schuss für zwei Euro leiste, der Inhaber bedient mich muffig und desinteressiert. Für meine fünf abgeschossenen Keramiksterne erhalte ich einen pinkfarbenen Plüsch-Würfel, passend zu meiner Kopfbedeckung. Nach einem unspektakulären Abstecher ins Bierzelt, in dem ich ignoriert werde, trete ich meinen Heimweg an und freue mich auf den Moment, in dem ich mein Kopftuch ausziehen kann.

Zu Hause angekommen, ziehe ich nicht nur mein Kopftuch aus, sondern streife gleich ein fremdes Gefühl mit ab. Wie der Alltag für kopftuchtragende Frauen in Stuttgart aussieht, werde ich auf diesem Weg wohl doch nicht erfahren.

Die Autorin ist Schülerin der 13. Klasse an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart