Die Welt wird klein

Barbara Schiller

Seit 2014 ist der Verein auch in Deutschland in der direkten Arbeit mit Flüchtlingen, in der Fortbildungs- und Trainingsarbeit und in Integrations- und Friedensprojekten engagiert.

An der türkisch-syrischen Grenze

Nura und Nehle sind zwei Schwestern aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Aleppo in Syrien. Wir treffen sie in einer Klinik in Kilis, einer türkischen Stadt an der Grenze zu Syrien. Hier unterstützten wir im letzten Jahr das zumeist syrische Personal mit pädagogisch-traumatherapeutischen Maßnahmen. Die Kinder, die sich bewegen können, nehmen unsere Angebote im Garten wahr. Mit den schwer verletzten, amputierten und gelähmten Kindern arbeiten wir jedoch individuell an jedem einzelnen Bett. Die tägliche Zuwendung bringt den Kindern etwas Normalität in ihr Leben, einem Leben im vollkommenen Ausnahmezustand. Es kann gelächelt und gelacht werden, wenn der Luftballon über die Betten fliegt, mit Tüchern jongliert wird oder kleine Zwergchen unter den Kissen hervorschauen. Das Zeichnen und Malen auf der Bettdecke gibt Struktur und entspannt gleichermaßen.

Die sechsjährige Nehle hat ein Bein verloren und weint fast ständig aus Angst vor ärztlichen Maßnahmen. Ihre Schwester Nura hat einen spastisch gelähmten Arm. Die kleinen Mädchen sahen, wie der Vater ermordet wurde. Bei der Bombardierung ihres Hauses starben die Mutter, alle Brüder und die Großeltern. Kurz nach unserer Begegnung sollen sie von Kilis aus wieder nach Syrien zurückgebracht werden. Zurück in den Krieg, zu Verwandten, die sie aufnehmen. Sie freuen sich auf die Rückkehr in die Heimat, »nach Hause«, wie sie sagen. Was für ein Leben sie sich dort wohl vorstellen? Ob die Mädchen heute in Syrien leben, ob sie überhaupt noch am Leben sind, weiß ich nicht. Möglicherweise haben sie sich auch irgendwie und mit irgendwem durchgeschlagen bis an den türkischen Mittelmeerstrand und von dort nach Griechenland und sind in der Zwischenzeit gemeinsam mit Tausenden und Abertausenden von Leidensgenossen in München, Duisburg oder Hamburg gelandet.

In der Erstaufnahmeinrichtung Funkkaserne in München

Sahar ist neun Jahre alt. Mit ihrer Mutter und drei Schwestern kam sie im August 2015 in der »Funkkaserne«, einer Erstaufnahmeeinrichtung in München, an. Nach einem langen, langen Weg von Afghanistan bis hierher. Wie die Mutter mit ihren Mädchen diesen Weg hinter sich gebracht hat, möchte ich mir im Detail nicht ausdenken. Laut »medica mondiale« ist davon auszugehen, dass ein großer Prozentsatz aller Frauen und Mädchen während ihrer Flucht Opfer sexueller Gewalt geworden sind.

Sahars Blick ist ängstlich. Das Bein ihrer Mutter, die zusammen mit anderen Müttern und Kindern im Garten der Einrichtung steht, lässt sie nicht los. Ohne dass sich das Kind von der Mutter trennen muss, nehmen meine Kolleginnen es auf in das gemeinsame Ballspiel, in das Flechten von Bändern oder das Hören einer Geschichte. Am ersten Tag ist noch kein Lächeln auf dem Gesicht des Mädchens zu sehen. Was dieses Kind erlebt hat, wissen wir nicht. Doch wir hoffen, dass auch wir dazu beitragen, dass es seinen Weg zurückfinden kann – zu sich selbst, zur Welt und in sein Leben. Dafür sind wir hier.

Die Welt wird klein

Eine Million Menschen mit Fluchthintergrund soll im Jahr 2015 in Deutschland Schutz und Hoffnung auf ein sicheres Leben gesucht haben. Und was vor Jahren nur in Orten wie Kilis stattgefunden hat, gehört nun in unseren Alltag. Die Welt wird klein.

Viele der zu uns Gekommenen werden nicht bleiben können, viele werden bleiben – und Leben werden sich verbinden müssen.

Doch was braucht es, um die Leben von Menschen wie Nehle, Nura und Sahar und unser Leben in wirkliche Verbindung zu bringen. Um Menschen mit verschiedenstem Lebenshintergrund und -erfahrung zu Gemeinschaften zusammenwachsen zu lassen, um Brücken zu bauen.

Hierzu führt stART verschiedene Integratonsprojekte mit Schülern, Studenten und Flüchtlingen durch. Außerdem hat der Verein in Zusammenarbeit mit dem Quellhof e.V. die Fortbildungreihe unterWEGs entwickelt. Theoretisch wie künstlerisch-praktisch werden wir uns mit der Frage nach Integration oder Inklusion, nach interkultureller Kompetenz, nach interreligiösem Dialog, nach dem Umgang mit Menschen mit Trauma-Hintergrund, nach dem eigenem inneren Maß im Engagement, nach dem Umgang mit Aggression und Konflikt auseinandergesetzen werden.

Netzwerkbildung

Was wird die Zukunft uns bringen? Waren die Ereignisse im Herbst 2015 eine Ausnahmeerscheinung? Die UNHCR-Statistik 2015 warnt: Die Flüchtlingszahlen haben sich in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt. Tendenz steigend. Helfen in dieser

Situation Frontex, Zäune und sogenannte sichere Herkunftsländer. Lassen sich Menschen auf der Flucht aufhalten? Was wollen wir tun? Wie wollen wir uns verhalten?

Wie können wir uns gegenseitig unterstützen? Wir laden ein zum Symposium »Flucht« am 29. Oktober 2016, veranstaltet von der Sozialwissenschaftlichen Sektion und stART, im forum3 in Stuttgart: ein Treffen für Menschen, Initiativen, Organisationen mit anthroposophischem Hintergrund, die in der Flüchtlingsproblematik aktiv sind: zum Kennenlernen und Austausch, zur Vernetzung, Kräftebündelung und zur Synergie-Gewinnung. ‹›

Kontakt:

e.wutte@start-international.orgb.schiller@start-international.org |

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