Klassenzimmer

Diesseits und jenseits des Äquators

Sven Saar
Johannifeuer. © mel82 / photocase.de
Fest zur Michaelizeit in der Mount Kenya Waldorf School am Äquator

Für Menschen nördlich oder südlich der Wendekreise des Erdballs ist das Durchlaufen der Jahreszeiten einer der längsten Rhythmen, die wir bewusst erleben. In der Kindheit im Allgemeinen und ganz besonders in der Waldorfschule mit ihrer Betonung der Jahresfeste ist die Pflege dieses Bewusstwerdens ein unschätzbar wertvolles Geschenk – erlaubt es doch heranwachsenden Menschen, sich im Zeitgefüge der Erde und speziell des sie umgebenden sozialen, kulturellen und geographischen Raumes zu beheimaten.

In Mitteleuropa weht zu Beginn des Schuljahres, am Ende des Sommers, noch ein Hauch Augustwärme durch den Schulhof, die Stimmung ist aber eine ganz andere als vor den Ferien. In vielen Waldorfschulen gehen die neuen Erstklässler:innen durch ein mit Sonnenblumen geschmücktes Tor. Der blumengeschmückte Empfang wird weltweit praktiziert: er signalisiert den Kindern, dass die sie begrüßenden Erwachsenen diesen Moment und die ihnen neu begegnenden Menschen ganz besonders wertschätzen. Was für ein passendes Bild für ihre biographische Situation: Wie die Sonnenblume durfte ihre Seele in der durch Herzenswärme geprägten Kindergartenzeit groß und strahlend aufblühen. In den Kindern schlummern, zart gepflegt, bereits die Samenkörner. In den nächsten Wochen verwelken zwar die Blüten –  die Erinnerung an den Kindergarten wird nach und nach verblassen, aber die Kerne gedeihen, bis sie sich eines Tages vom Blütenkopf lösen. Jetzt sind sie ganz in der Schule angekommen, und dann ist Oktober.

Draußen weht der Wind schon manchmal ungemütlich, und in der Schule wird, dem Alter entsprechend, der Blick auf die inneren Werte gelenkt. Der Mut, der nötig ist, um sich gegen die Kräfte der Dunkelheit zu behaupten, spielt in vielen Geschichten um Sankt Michael eine große Rolle. Einige Schulen organisieren einen großen Arbeitseinsatz im Schulgelände: Büsche müssen zurückgeschnitten und die Wucherungen des Sommers beseitigt werden, damit die herbstliche innere Klarheit auch äußerlich Betonung erfährt. Es werden Feuer entzündet und Dornenranken gekappt, und am Schluss genießt man die warme Suppe und das Gefühl, gemeinsam etwas bereinigt zu haben.

Kürzlich habe ich in einer philippinischen Schule Michaeli gefeiert: Hier nannten wir es das Festival des Willens. Was für Bilder braucht man, wenn die Licht-Dunkel oder Wärme-Frost-Metaphern in der Natur nicht erlebbar sind? Sind michaelische Charakteristiken am Äquator anders? Mir fiel auf, wie vergleichsweise einfach es die Menschen in den gemäßigten Zonen, vor allem auf der nördlichen Halbkugel haben: wir sehen die Wiedergeburt der Natur im Frühling und die innere Einkehr, wenn im Herbst die Nächte länger werden. Was ändert sich auf der Südhalbkugel? Wie feiert man im Hochsommer angemessen Weihnachten? Australische Ladenschaufenster sind mit Kunstschnee besprüht, und dick eingepackte Weihnachtsmänner schwitzen unter ihren Kunststoffbärten. Wir merken: die uns vertrauten Bilder sind dort fehl am Platz! Wenn die Natur uns den Gefallen nicht tut, unser inneres Erleben angemessen zu begleiten, muss die innere Bildgestaltung intensiver und auch origineller betrieben werden. Hier liegt noch viel Pionierarbeit, übrigens auch in der Sichtung von Festen, die nichteuropäischen Ursprungs sind. Könnten das indische Holi-Fest, der Ramadan mit abschließendem Id, das chinesische Neujahr nicht auch hier, religionsübergreifend, Teil der Festkultur werden?

Ich bin nicht überzeugt, dass Bilder und Traditionen der Jahresfeste ihren Ursprung ganz in der Natur haben, auch wenn als Argument oft keltische oder heidnische Rituale herangezogen werden. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie die Wiederkehr der Zusammenkunft feiern, und gleichzeitig etwas dem Menschen eigenes – die innere Arbeit an uns selbst.

In allen Kulturen der Welt waren und sind Menschen bestrebt, sich selbst kulturell und moralisch zu erziehen. Dazu haben sie Religionen und Rituale entwickelt, und viele von ihnen bedienen sich natürlicher Phänomene wie der Jahreszeiten, der Tier- und Pflanzenwelt, weil sie den inneren Absichten Bildcharakter geben. Vor allem Kinder können in solche Bilder innig eintauchen und zehren oft ein Leben lang von ihnen.

Ursprünglich handelt es sich bei Hallowe’en, dem Vorabend von Allerheiligen, um ein keltisches Fest (Samhain), an dem der Verstorbenen gedacht wurde, die sich in dieser Nacht besonders nah an das Reich der lebenden Menschen herantasten. Die Kürbismasken im Fenster dienten dazu, die bösen Geister abzuschrecken, für die der Schleier zur irdischen Welt eben auch dünner geworden ist. Die Grundgeste ist aber das Wertschätzen der Verstorbenen. Mit Kindern kann man um diese Zeit Blumenzwiebeln für das kommende Jahr pflanzen und ihnen am Bild der ausgetrockneten Zwiebel vermitteln, wie der Mensch durch seine Taten den entscheidenden Unterschied macht: Lasse ich die Zwiebel im Schrank, bleibt sie tot. Pflanze ich sie in die Erde, gebe ich ihr die Chance, sich zu entwickeln und das zum Ausdruck zu bringen, was in ihr schläft – ein nachhaltiges Bild unserer Beschäftigung mit jenen Menschen, die nicht mehr auf der Erde weilen und eine von vielen Möglichkeiten, Erdenleben und Seelenerleben miteinander zu verbinden.

Endlich ist Advent! Waldorfeltern kennen das: «Wann fängt die Advents­spirale an? Wir sind viel zu spät dran! Ziehst du mal die Kinder an? Wo ist meine Brille? Hast du den Autoschlüssel gesehen? Jetzt gibt es bestimmt keine Parkplätze mehr!»

War auch die Fahrt zur Schule bis zum Sitzen auf den engen Bänken noch unwirsch und stressig, so fallen doch in dieser intimen Stunde, mit dem wachsenden Licht, den leisen Liedern und Leierklängen, die Belastungen von der Seele, und es wird ein neuer Atem gefunden. Erwachsene brauchen ein paar Minuten länger, bis sie innere Entspannung finden. Kinder tauchen sofort ein: Ich erwarte gespannt den Moment, an dem ich endlich meine Kerze in die Mitte der Spirale tragen darf, dann vorsichtig – nur nicht fallen lassen! – finde ich den richtigen Platz für sie und setze sie sorgsam ins irdische Grün. Ich gehe erleichtert hinaus und erlebe noch weiter, wie es mir die anderen gleichtun, und immer wieder blicke ich auf mein eigenes kleines Licht inmitten all der anderen – ich und ihr, wir sind eins, und wir leuchten in die Dunkelheit! Diese Bildfolge senkt sich tief in die Seele!

In Europa setzen im weiteren Verlauf des Winters Mariä Lichtmess (der Siebenschläfertag) und auch die Tagundnachtgleiche (Frühlingsanfang) weitere Akzente. Die Kleinen säen am Aschermittwoch Weizen in kleine Töpfe und beobachten während der – im Vergleich zum Ramadan eigentlich halbherzigen – Fastenzeit, wie sich die grünen Sprossen durch die Erdkrume nach oben schieben: Neues entsteht aus der Unsichtbarkeit.

Etwa ab der sechsten Klasse gehört ein anderes Bewusstsein zum Erleben des Jahreslaufes. Ist das kleine Kind noch ganz in die Rituale eingetaucht und hat die Bilderwelt genossen, so kommt in der Mittelstufe das aktive Verstehen dazu: Was hat das Osterfest mit dem Stand des Mondes zu tun? Warum beginnt der Karneval jedes Jahr an einem anderen Datum? Hier sind die äquatorialen Länder zu beneiden: auf einem brasilianischen Karnevalsumzug kann man so wenig tragen, wie man will – man wird garantiert nicht frieren. «Mama, warum können wir die Fasnet nicht im Sommer feiern? Ich will nicht immer als Wikinger gehen!»

Nach Ostern geht es hier mit großen Schritten dem Sommer entgegen und die Natur verändert sich täglich. Viele fünfte Klassen führen individuelle Baumtagebücher, und jetzt gibt es richtig viel zu beobachten – nicht nur das Wachstum an den Knospen und Blättern, sondern auch das Wiedererwachen der Tierwelt. Der menschliche Blick, im Winter noch durch Lieder und Gedichte auf innere Werte fixiert, beginnt sich nach außen zu richten. Auch dieses wichtige, Balance schaffende Schwingen zwischen Zentrum und Peripherie wird uns Hemisphärikern durch die wechselnden Jahreszeiten erleichtert – je näher den jeweiligen Polen, desto deutlicher. Natürliche Wärme zieht uns Menschen in die Weite, und diese Tendenz verheiratet sich mit dem Lehrplan. Die vierte Klasse erforscht in der Heimatkunde das Umfeld der Schule, die Fünfte fährt zum ersten Mal gemeinsam durch Deutschland, die Sechste kann sich geologische Gesetzmäßigkeiten unter die Wanderstiefel holen, und die Siebte hat auf dem Schulhof Chemieepoche: Verbrennungsvorgänge demonstriert man nicht so gut im Klassenzimmer.

Das Johannifest um die Sommersonnenwende ist in vielen europäischen Waldorfschulen ein echter Höhepunkt für die Schulgemeinschaft. Die Feier beginnt zum Beispiel mit einem abendlichen Picknick, zu dem alle Familien etwas beisteuern und bei dem sie sich klassenübergreifend begegnen. Im Anschluss finden auf der Wiese sommerliche Spiele und Tänze statt. Die Kleinen wären an jedem anderen Tag schon längst im Bett. Heute aber beginnt erst jetzt das eigentliche Programm: Alle versammeln sich im Schulhof und einzelne Klassen rezitieren Gedichte oder führen Zirkuskunststücke vor. Dann wird in der Dämmerung eine Geschichte erzählt und so gegen halb zehn begibt sich ein langer Zug von Menschen, von Fackeln geleitet, wieder auf die Wiese, wo die älteste Klasse bereits um den Feuerstoß steht, einen Spruch rezitiert und dann gemeinsam von allen Seiten das Feuer entzündet. Hell lodern die Flammen auf, mit ihnen erheben sich Klänge von Stimmen und Instrumenten in die Sommernacht, und später werden Eltern, Lehrer:innen und die größeren Schüler:innen noch über das verglimmende Feuer springen. Solche Nächte vergisst man nicht!

Nach Mittsommer ist der Alltag der Lehrer:innen – oder zumindest ihre Wochenenden – von einem menschengeschaffenen Rhythmus geprägt – dem der sorgsam und liebevoll verfassten Zeugnisse. Auch dies ist ein immer wiederkehrendes Ritual, mit Leben gefüllt, weil man ja nie dasselbe schreibt. Jedes Kind hat sich im vergangenen Jahr verwandelt und ist sich dennoch treu geblieben. Was sich in ihm offenbarte, und vor allem, was noch schlummert und zur Entfaltung kommen möchte, fließt in den Zeugnisspruch: Er wird das Kind ein ganzes Jahr lang begleiten, und im Idealfall haben ihn sich die Pädagog:innen durch kontemplative Versenkung selber errungen. So erfinden Menschen, von Jahreslauf und Klimazone unabhängig, ganz originelle, neue Festmomente: in kreativer Hingabe an die Entwicklung der ihnen anvertrauten Kinder wird ein individuell gültiges, nachhaltiges und wahres Bild geschaffen.

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