Die Politik müsse unbedingt Vorkehrungen dagegen treffen, dass aus dem Zusammenspiel von Datensammelwut und Sicherheitshysterie – ich erlaube mir hinzuzufügen: Geschäftsinteressen – eine neue Macht hervortritt, die uns lückenlos kontrolliert und schließlich auch steuert. Der Soziologe Harald Welzer sieht das ähnlich. Er bringt schon seit geraumer Zeit seine Befürchtung zum Ausdruck, wir könnten auf einen Punkt zusteuern, an dem es keinerlei »Privatheit« mehr geben wird, also keine unüberwachten Rückzugs- und Begegnungsräume. Welzer sprang für Hans Magnus Enzensberger in die Bresche. Der hatte voriges Jahr den viel geschmähten Boykottaufruf »Wehrt euch!« gegen den neuen Leviathan veröffentlicht. Es sei höchste Zeit, durch Verweigerung Flagge zu zeigen. Einige Punkte: Politiker abwählen, die der digitalen Enteignung Vorschub leisten; Mobiltelefon wegwerfen; Online-Banking stornieren; keine Kreditkarten benutzen; Post per Hand schreiben und traditionell verschicken; raus aus Facebook – ich möchte ergänzen: E-Reader in die Mülltonne, richtige Bücher lesen.
Natürlich hat Enzensberger Recht. Das Ganze ist kein Kulturfortschritt, sondern hirnverbrannt und gefährlich. Was uns blüht, wenn es nicht gelingt, die Entwicklung aufzuhalten, versuchen zunehmend auch Jugendbuchautoren ins Bild zu setzen. Zwei beachtliche Neuerscheinungen seien herausgegriffen: Eden Academie von Lauren Miller und delatet von Margit Ruile.
Beide Romane spielen in naher Zukunft und sind Variationen des Brave-new-world-Themas. Erzählt wird aus der Perspektive von Jugendlichen, die auf Elite-Internaten landen, dort erst das Ausmaß ihrer Unfreiheit begreifen und sich zu wehren beginnen. In den realutopischen Szenarios sind alle Menschen rund um die Uhr vernetzt, werden beobachtet und abgehört. Niemand – nun ja, fast niemand – findet daran etwas falsch. Jeder trägt ein kleines Gerät am Arm – bei Miller heißt es Gemini, bei Ruile E-brace –, gegen das sich die heutigen Smartphones vorsintflutlich ausnehmen. Geminis und E-braces sind digitale Begleiter, Butler, Unterhalter, Erzieher, Gesundheitswächter, Ratgeber für alle Lebenslagen und – wie sich zeigt – Spione. Die Jugendlichen hängen an den Dingern wie Babys an der Flasche. Big Brother ist allgegenwärtig.
Es kommt nicht oft vor, dass hoch unterhaltsame Bücher auch Stoff zum Nachdenken liefern. Ich finde, es wäre eine gute Möglichkeit, solche Romane im Unterricht zu behandeln und den Schülern dann harte Fakten zu präsentieren, die verdeutlichen, dass hier Fiktion und Wirklichkeit nahe beieinander liegen. Es wird ja wirklich ernst. Immerhin warnt sogar der berühmte Informatiker, Virtual-Reality-Pionier und Künstler Jaron Lanier, Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, vor einem heraufziehenden »digitalen Maoismus«. Die Welt braucht Leute wie ihn: mittendrin, aber unangepasst. Sonst gehen wir düsteren Zeiten entgegen.