Verschwindet das Lesen im elektronischen Nirvana?

Orsolya Scherer-Karadi

Wenn man sich umschaut, sieht man immer mehr Menschen mit elektronischen Geräten, hauptsächlich Handys, in der Hand. Kinder sitzen in einer Ecke, starren auf einen Bildschirm und sind völlig von der Welt abgeschottet. Erwachsene ebenso. 

Schüler tun sich immer schwerer mit Textaufgaben. Sie sind unsicher, wenn sie die Aussage eines Textes verstehen und wiedergeben sollen. Das sogenannte Lesen zwischen den Zeilen und das Vergleichen verschiedener Aspekte überfordert sie. Die Zahl der Schüler, die solche Aufgaben nicht lösen können, wächst. Meine Vermutung, dass die Nutzung elektronischer Medien bei dieser Problematik eine Rolle spielt, habe ich mit einer Mini-Studie an einer hessischen Waldorfschule überprüft. Schüler der Klassen 9, 10 und 11 hatten einen Text zu lesen. Zwei inhaltliche Fragen zu dem Text sollten sie so umfassend wie möglich beantworten. Zusätzlich hatten sie einen Fragebogen über ihre Mediennutzung und Lesegewohnheiten auszufüllen. Auffällig ist, dass alle, die die Fragen entweder gar nicht oder völlig abweichend vom Textinhalt beantwortet haben, nach eigenen Angaben mindestens sieben Stunden am Tag mit elektronischen Medien verbringen. Ihre Antworten waren sehr kurz, maximal ein bis zwei Sätze. Bei Schülern, die den Text schwer verständlich und zu lang empfanden, betrug der Medienkonsum durchschnittlich fünf Stunden am Tag. 

Alle Schüler haben ein Smartphone. Das Internet wird für Unterhaltung, Kommunikation, Informationensuche und Hausaufgabenhilfe genutzt. Unabhängig von der Klassenstufe kaufen mehr als die Hälfte im Internet ein. Im Durchschnitt besitzen Jugendliche elektronische Medien seit der Kindheit und nutzen sie täglich. Die meisten schauen seit ihrem fünften Lebensjahr Fernsehen. Ein Handy besitzen sie im Schnitt ab dem zwölften Lebensjahr. Ihr erstes Smartphone bekommen sie mit 14 Jahren.

Dreiviertel der Jugendlichen geben an, dass sie es mehrere Tage ohne elektronische Medien aushalten könnten, knapp ein Fünftel einen halben Tag. Wenn man Klassenfahrten und Ausflüge begleitet, stellt man jedoch fest, dass sie es sich überhaupt nicht vorstellen können, sogar nur ein paar Stunden ohne elektronische Medien zu verbringen. Knapp ein Fünftel der Jugendlichen lesen noch Bücher.

Lesegewohnheiten der Schüler und Schülerinnen

Die Zahl der Schüler, die sehr gerne lesen, ist in höheren Klassenstufen bei Mädchen stark rückläufig, bei Jungen erhöht sie sich dahingegen moderat.

Insgesamt berichten Schüler, dass gelesene Begriffe nicht automatisch innere Bildvorstellungen erzeugen. Das heißt, wenn sie lesen, müssen sie sich jedes einzelne Wort bewusstmachen. Lesen wird als anstrengend empfunden.

Festzustellen ist auch, dass Jugendliche, die sehr gerne lesen, eine Familie haben, die auch regelmäßig liest. Andere, deren Familien nie oder nur selten lesen, lesen auch nie oder eben nur für die Schule. 80 Prozent der Schüler wurde, als sie klein waren, regelmäßig vorgelesen. Ein Fünftel der Schüler lesen generell keine Bücher, dies 

betrifft überwiegend Jungen. Ihr Medienkonsum beträgt mehr als sechs Stunden am Tag. 

Warum finden Schüler Bücher nicht mehr interessant?

Die Gründe sind überwiegend, dass es oft zu lang dauert, bis man in einen Lesefluss kommt; manchmal ist der Anfang eines Buches langweilig, der Text kompliziert, voller Fremdwörter oder die Geschichte zu einfach, das Ende sehr schnell vorhersehbar. Interessant ist auch, dass die Jugendlichen nach eigenen Angaben keine Zeit zum Lesen haben oder es als störend empfinden, dass man beim Lesen allein ist. Dagegen erleben sie das Chatten und die Aktivitäten in sozialen Netzwerken als verbindend, auch wenn sie real alleine zu Hause in ihrem Zimmer sitzen.

Konzentrationsmangel und Unselbstständigkeit

Da man sich über das Smartphone rasch alle Informationen holen kann, müssen sich die Jugendlichen ihr Wissen nicht mehr mühsam erarbeiten. Das hat zur Folge, dass das Wissen wenig nachhaltig ist und die Konzentrationsfähigkeit abnimmt, was im Unterricht immer stärker bemerkbar wird. Nach rund fünf Minuten ist Schluss mit konzentriertem Lesen, die Ruhe wird immer wieder gestört. Die Störenfriede waren immer Schüler mit übermäßigem Medienkonsum (mind. 7 Stunden pro Tag). In allen drei Klassenstufen gab es viele Schüler, die unsicher waren, wie viel sie zu den zum Text gestellten Fragen schreiben sollten. Fragen, bei denen man nachdenken oder mitdenken sollte, sorgten bei einigen rasch für Überforderung. Jugendliche, die viel Zeit mit Computer­spielen verbringen, sind nicht in der Lage, einfachste Folgeschritte selbstständig auszuführen. Typische Fragen: »Was müssen wir jetzt tun?« oder »Muss ich jetzt die Fragen beant­worten?«

Online lesen und seine Folgen

Auch die Qualität des Lesens wird von elektronischen Medien beeinflusst. Wenn man einen Text am Bildschirm liest, liest man oberflächlicher. Beim Buch (ohne Bilder) habe ich nur den Text, den ich linear verfolge und die selbstentwickelten Bilder im Kopf. Die inneren Bilder, die ich in mir erzeuge, werden von dem Text, den ich lese, geformt. Lese ich dagegen online, werde ich durch Bilder, Videos und Werbung abgelenkt. Bei E-Books entfallen Werbung oder andere Pop-Ups. Das Leseverhalten und die Augenbewegung sind zwar ähnlich wie beim Buch, die raum-zeitliche Integration wird jedoch nicht so aktiviert, dass es zu einer vollen neuronalen Integration von Inhalten kommt (vgl. Beitrag von Teuchert-Noodt in dieser Ausgabe). 

Um zu verstehen, was man liest, muss man jedes Wort begreifen und dieses auch im Kontext erkennen können. Ohne die Fähigkeit der Schlussfolgerung oder des Begreifens der Aussage des Textes fehlt das Verstehen. Einzelne Wörter bleiben in Erinnerung, wenn man einen Text liest, aber der Zusammenhang der Informationen ist nicht nachvollziehbar. Die Schüler zeigten zwar, dass ein Minimum von Informationen hängen bleibt, nachdem sie den Text gelesen haben, diese Informationen bestehen aber nur aus bestimmten Wörtern, die zwar die Aussage des Textes erkennen lassen, aber dennoch kein Ganzes wiedergeben.

Manche Schüler haben auch das Problem, sich verständlich, in komplexen Sätzen flüssig auszudrücken. Die Klage bei freiem Schreiben hört man immer wieder von Schülern: »Ich kann das nicht! Ich bin so unkreativ! Was soll ich denn schreiben?« Das gab es zwar schon immer, doch beobachte ich, dass die Zahl dieser Schüler in den letzten Jahren zugenommen hat. 

Die kreative Beweglichkeit zeichnet sich dadurch aus, dass man sich aktiv mit verschiedenen Gedanken auseinandersetzen kann. Die Schüler neigen aber dazu, »bedient« zu werden, sie wollen konsumieren und weniger etwas selber denken oder erschaffen – eine Beobachtung, die meine Kollegen in den Fächern Englisch, Französisch und Deutsch teilen.

Das Textverständnis wird auch davon beeinflusst, inwieweit jemand fähig ist, selbst Texte zu produzieren. Die Qualität des Verstehens zeigt sich, indem man Texte schreibt oder zusammenfasst. Auch der Schreibstil offenbart, wie gut man den gegebenen Text verstanden hat. 

Die Frage ist nicht, was die Schüler lesen, sondern wie sie lesen. Können sie die Kernaussage eines Textes verstehen und, wenn nötig, diese kritisch reflektieren? Haben sie die Fähigkeit entwickelt, zwischen den Zeilen zu lesen? Können sie Gedanken und Gefühle diverser Charaktere nachvollziehen? Besitzen sie die Fähigkeit, wichtige Informationen angemessen wiederzugeben, Texte nach Bedarf zu kürzen oder wahre Aussagen von falschen zu unterscheiden? Die Jugendlichen müssen lernen, nicht alles in der Welt einfach so hinzunehmen. Und dabei brauchen sie »Lese«-Hilfe.

Zur Autorin: Orsolya Scherer-Karadi ist Englischlehrerin und Klassenbetreuerin in der Oberstufe sowie seit 2018 Lehrerin für Medienkunde in der Mittel- und Oberstufe und Medienbeauftragte an der Freien Waldorfschule Wiesbaden.

Literatur: A. Manguel: Eine Geschichte des Lesens, Frankfurt am Main 2008; E. Hübner: Medien und Pädagogik, Stuttgart, 2015