Dreischritt zur Erkenntnis. Rudolf Steiners erster Lehrerkurs – der neunte Tag

Sven Saar

Warum sollten sich junge Menschen für so etwas interessieren? Man weiß ja schon vom ersten Moment an, worauf es hinausläuft! Die Waldorfschule geht da anders vor.

Sprachlich etwas irritierend stellt Steiner an den Beginn des Prozesses den Schluss, im Sinne von »anschließen«: Zunächst haben wir eine Wahrnehmung, die in unserer Vorstellung sofort zum Bild wird: Ich sehe ein mir völlig unbekanntes Wesen, erkenne es aber als Tier, weil ich schon andere Tiere gesehen habe, die mit diesem etwas gemeinsam haben – vier Beine zum Beispiel, oder Flügel.

Ich trete in Alaska aus meinem Zelt und vermeine, im Morgengrauen einen anderen Menschen zu sehen. Oder ist es ein Grizzlybär auf den Hinterbeinen? Seine Aufrechte kann in mir einen Trugschluss auslösen. Kommt er mir näher, kann ich meinen Schluss zu anderen bereits bestehenden Begriffen in Beziehung setzen und so einen Zusammenhang herstellen: Fell, drei Meter hoch, kanadischer Wald, Brummgeräusche. So komme ich zu dem Urteil: das ist ein Bär! Es gesellen sich sehr schnell – hoffentlich schnell genug – weitere Aspekte dazu, bis in mir der feste Begriff entsteht: Bären sind gefährlich. Jetzt sollte ich mich aufgrund dieser Einsicht bemühen, ihm nicht als Frühstück zu dienen.

Diesen Dreischritt gehen Waldorflehrer mit ihren Schülern, wenn etwas Neues eingeführt wird, also eigentlich jeden Tag: Man bringt ein Bild, das möglichst stark und erweckend wirkt (Schluss), setzt es in Beziehung zu anderen verwandten Phänomenen (Urteil) und endet schließlich mit einem möglichst lebendigen Begriff. Das kann man aus Schülerperspektive etwas anders auch so ausdrücken: Ich habe im Unterricht ein Erlebnis, schaffe mit Hilfe des Klassengespräches einen Zusammenhang und mache mir dadurch ein Konzept zu eigen, das mir bei zukünftigen Wahrnehmungen helfen wird.

Um Letzteres zu erreichen, muss der mittlere Teil charakterisierend, nicht definierend gestaltet werden. Definitionen stehen still, erheben den Anspruch der ewigen Gültigkeit. Begriffe, die aus dem Charakterisieren entstehen, bleiben lebendig – sie können sich mit neuen Eindrücken weiterentwickeln und sind von Mensch zu Mensch zwar ähnlich, aber nicht identisch: Eine Chemikerin hat berufsbedingt einen ganz anderen Begriff von Salz als ein Chefkoch. Beide sind Salzfachleute, können aber noch viel voneinander lernen.

Wer sich an Definitionen festklammert, wird auch darauf bestehen, dass seine Meinung die größte Gültigkeit besitzt. In der Kultur der Gegenwart gilt es oft als Schwäche, wenn jemand erklärt, er habe seinen Standpunkt geändert. In Wirklichkeit zeugt es von innerer Stabilität, von flexibler Kraft, wenn man seine Begriffe so durchlässig hält, dass man zeitlebens bereit ist, von der sich entwickelnden Welt zu lernen. Sind unsere ehemaligen Schülerinnen und Schüler dazu fähig, haben wir ein wesentliches Ziel der Waldorfpädagogik erreicht.