Bekenntnis zur Freiheit

Mathias Maurer

Mit dieser eigenständigen Welt »rechnet« aber die Waldorfpädagogik, sie ist für sie essentiell, nicht nur persönliche Meinung oder eine anthroposophische Vorstellung. Die geistige Welt scheint dem heutigen Rationalismus, auch dem »spirituellen Materialismus« in ihrer Wesenhaftigkeit kaum mehr zugänglich zu sein. Sie wird ins Reich des ernst-schönen Sentiments, der Märchenstunde für Kinder, der Kirchgänger oder in den Religionsunterricht verbannt.

Doch das Leben selbst spricht oft genug eine andere Sprache. Extremsituationen und Schicksals­schläge können gewohnte Weltbilder aufbrechen, unsere Wahrnehmungs- und Vorstellungsroutinen durcheinanderwirbeln, uns in unserer intellektuellen Gemütlichkeit aufschrecken und uns jähe Einblicke eröffnen in menschliche Abgründe und Höhen, wie auch in übermenschliches Kräfte­wirken. Man muss ja nicht gleich vom Saulus zum Paulus werden, aber man tritt wie ein nach einer Krankheit Genesener als Verwandelter aus den Erschütterungen und Nöten heraus, das Gemüt und die Sensorik geweitet, den Blick geschärft für Wesenhaftes.

Der russische Schriftsteller Wladimir Solowjow (1853–1900) entwarf in seiner Kurzen Erzählung vom Antichrist ein prophetisches Bild moderner Herrschaft, die sich in Altruismus und Bescheidenheit zum Wohle der Menschheit kleidet. Sie zeichnet sich vor allem durch ein Merkmal aus: Antiindividualismus. Die Weihnachtsgeschichte, die mit der Erfassung der Bevölkerung beginnt, die Geburt des Jesuskindes, seine Verehrung durch die Hirten und die Drei Könige, seine blutige Verfolgung durch die Schergen des Herodes und seine Flucht nach Ägypten – wenn sie eine allgemeingültige, moderne Botschaft enthielte, könnte sie als radikales Bekenntnis zur Freiheit des Individuums gelesen werden, von Menschen, die entgegen aller Vorschriften und Regeln der damaligen Welt im Einklang mit den kosmischen Gesetzen mutig und furchtlos ihrem Stern und ihren Herzen – zum Schutze des Kindes – folgten. Sie würden eine Gefahr für jeden Machthaber noch heute darstellen.