Bild dir was ein

Liebe Leserin, lieber Leser!

Thomas Südhof ist Professor an der Stanford University in den USA und erhielt 2013 den Nobelpreis für Medizin. Südhof ist ehemaliger Waldorfschüler. In einem Interview berichtet er von seiner Zeit an der Waldorfschule Hannover-Maschsee und erinnert sich lebhaft an die eindrücklichen Erzählungen seines damaligen Klassenlehrers, der als Geograph in Spitzbergen überwinterte. Das ist fünfzig Jahre her und seine Schilderungen stehen ihm immer noch lebhaft vor Augen.

Nichts wirkt nachhaltiger als Bilder – gute wie schlechte. Sie stehen selbst nach vielen Lebensjahren taufrisch im Gedächtnis. Sie belasten oder bauen uns auf, ernähren oder schwächen uns. Wir nehmen sie mit durchs Leben, sie prägen uns und beeinflussen unsere Handlungen. Haben wir einmal in unserer Kindheit einen Freund verpetzt, um unsere eigene Haut zu retten, kann uns das heute noch als Erwachsene die Schamröte ins Gesicht treiben. Kursierten in der Klasse heimlich Bravo-Zeitschriften und Härteres, musste man sich als Jugendlicher mit ersten Realerfahrungen ziemlich anstrengen, von diesen »Besetzungen« wieder loszukommen. Half man einer gestürzten alten Frau und rief den Notarzt, erfüllt einen das heute noch mit tiefer Befriedigung. Allen unseren Verhaltensweisen liegen in uns schlummernde Vor-Bilder zugrunde, die wir lesend, hörend, sehend, also erfahrend aufgenommen haben, die sich in uns verdichten, ein fundamentales Lebensgefühl vermitteln und uns Orientierung geben. Wir messen uns an ihnen, sind Helden und Versager, wir scheitern und gewinnen.

Dagegen wirkt das, was wir uns rein abstrakt angeeignet haben, blass und kraftlos. Es verschwindet, wenn wir kein Erlebnis, kein Gefühl damit verbinden. Und das wissen alle »guten« Pädagogen. Nicht nur in Literatur, Geschichte, sondern auch in Physik, Chemie und Mathematik bedürfen wir der Bildsprache, damit »Fakten« lebendig im Gedächtnis haften bleiben und uns als ganzen Menschen bilden.

Das Bild – das bildhafte Lernen – ist die Ur-Grundlage der Waldorfpädagogik. Ob im Spiel oder im Unterricht – es geht immer um das idealische Bild des Menschen, vom Kindergarten bis in die Oberstufe.

Unsere Bildungsfähigkeit hängt davon ab, welche Imaginationen, also inneren Bilder, wir erzeugen können. Wir werden bemerken: Diese Bilder sind wirklicher und bestimmen unseren Blick auf die sogenannte Realität mehr, als wir gemeinhin meinen. Wir sollten uns mehr darauf einbilden.

Aus der Redaktion grüßt

Mathias Maurer