Das ist ja nicht auszuhalten!

Mathias Maurer

Liebe Leserin, lieber Leser!

Neulich saßen wir am Tisch und redeten – wieder einmal über die Schule. Sarah, 9. Klasse, Nicolas, 5. Klasse, und ich. »Der bescheuerte Morgenspruch, warum sprechen wir den eigentlich noch? ›Ich schaue in die
Welt ... ‹, Nur peinlich, wie im Kindergarten«, wetterte Sarah. »Wieso bescheuert?«, fragte Nicolas, »meine Lehrerin erzählte uns, dass wir alle Pflanzen und Tiere liebhaben sollen. Das stimmt doch auch!« Ich frage: »Kann jemand von euch den Morgenspruch aufsagen?« Pause. Dann in Bruchstücken: »... die Steine
lagern ..., im Sonn´- und Seelenlicht ..., o Gottesgeist« ... Sie brachten ihn nicht heraus, das geht wohl nur gemeinsam in der Klasse. Ich schaue ins Regal, ziehe das Buch heraus und will nachschauen: »Das ist ja nicht auszuhalten! Wir machen hier nicht Schule«, zetert Sarah. »Gut, gut«, sage ich, »ist schon in Ordnung.«
Am Abend nehme ich das Buch erneut in die Hand und lese den Morgenspruch der Fünft- bis Zwölftklässler:


Ich schaue in die Welt,
in der die Sonne leuchtet,
in der die Sterne funkeln,
in der die Steine lagern.
Die Pflanzen lebend wachsen,
die Tiere fühlend leben,
in der der Mensch beseelt
dem Geiste Wohnung gibt.

Ich schaue in die Seele,
die mir im Innern lebt,
der Gottesgeist, er webt
im Sonn- und Seelenlichte,
im Weltenraum da draußen,
in Seelentiefen drinnen.

Zu dir, o Gottes Geist,
will ich bittend mich wenden,
dass Kraft und Segen mir
zum Lernen und zur Arbeit
in meinem Innern wachse.

Dieser Spruch hat es in sich: Er lenkt den Blick in drei Richtungen: in die Welt nach außen – ich nehme über die Sinne wahr –, in die eigene Seele nach innen – ich erkenne – und auf das eigene zukünftige Leben – ich will die Welt mit Gottes Hilfe gestalten. Ein Weg, der über die Welterfahrung und die Welterkenntnis zur Selbsterkenntnis, Urteilsfähigkeit und aktiven Weltveränderung führt. Ich stehe auf dem festen Boden der mineralischen Welt, die Pflanzen müssen »lebendig wachsen«, um mich und die Menschheit zu ernähren, ich fühle mit den Tieren und ich bin als erkennendes Wesen ihnen, meinen Mitmenschen, der gesamten Welt, ja dem Kosmos gegenüber verantwortlich.

Beginnt ein Tag mit einer solchen kräftigen Seelennahrung, kann man diesen Spruch nicht nur gut aushalten, er ist geradezu ein Vademecum, das die schier unaushaltbaren Schattenseiten einer globalisierten Welt zurückzudrängen und ihre guten und lichten Seiten sichtbar zu machen vermag.

Aus der Redaktion grüßt

Mathias Maurer