Das ist Kult

Mathias Maurer

Liebe Leserin, lieber Leser!

Anruf von der Polizei. Die Eltern könnten ihre Tochter abholen. – Was war passiert? Maria (16) war in ihrem Dirndl nachmittags auf die »Wiesn« gezogen. Man fand sie abends sturzbetrunken hinter einem Festzelt. Zur Ausnüchterung behielt man sie noch eine Weile auf der Wache.

Mutter und Vater sind entsetzt. Sie machen sich Vorwürfe. Haben sie ihrer Tochter zu viele Freiheiten gelassen? Sie fragen ihre Tochter, warum sie das gemacht hat. »Ja, halt so, wir haben gefeiert. Dann bin ich raus und umgekippt.« Musste sie denn dahin gehen? »Das ist einfach wahnsinnig lustig mit den Leuten. Das ist Kult.«

Sie sehen noch Klein-Maria im Kindergarten andächtig durch die Adventsspirale gehen, mit großen Augen unterm Weihnachtsbaum Lieder singen, im Garten mit glühenden Backen Ostereier suchen. An ihren Geburtstagen bestand sie noch als Dreizehnjährige auf dem Blumenbogen um ihren »Thron« ... Die Eltern können sich eigentlich nicht den Vorwurf machen, ihren Kindern keine Festkultur vermittelt zu haben. Warum dann das?

Jeder Mensch steht zwischen den Polen von inkarnierenden und exkarnierenden Prozessen – er kommt zu sich und gerät gewissermaßen außer sich. In der Menschenkunde Rudolf Steiners ist das »richtige« Atmen – einatmen und ausatmen in einem gesunden Rhythmus – von zentraler pädagogischer Bedeutung. Aus der griechischen Mythologie sind uns ähnliche Polaritäten überliefert, deren Motiv zum Beispiel von Schelling und Nietzsche aufgegriffen und als dionysische und apollinische  Eigenschaften des Menschen bezeichnet werden. Diese Begriffe beschreiben zwei gegensätzliche seelische Wesensmerkmale: das Apollinische steht für Form und Ordnung, für individuelle Abgrenzung, und das Dionysische für rauschhafte Entgrenzung, Gemeinschaftserleben, Euphorie und unbändigen Schöpfungswillen. Hölderlin fasste diese Polarität im Menschen in die Verse: »Ihr holden Schwäne, und trunken von Küssen tunkt ihr das Haupt ins heilig-nüchterne Wasser.« Schiller bezeichnet sie als »Form- und Stofftrieb«, die im »Spieltrieb« des reifen Menschen ihre Synthese finden. Rudolf Steiner beschreibt in der »Meditativ erarbeiteten Menschenkunde«, wie eine Erziehungskunst danach strebt, zwischen der physischen, erdzugewandten (dionysischen) und geistig-ideellen (apollinischen) Wesensart des heranwachsenden Menschen auszubalancieren.

War Marias »Entgrenzung« Ausdruck ihrer Sehnsucht nach ungezwungenem Gemeinschaftserleben – ein Befreiungsschlag gegen die Überformung durch gut gemeinte erzieherische Absichten in Schule und Elternhaus? Gegen den durchpädagogisierten seelischen Druck, der ihr keine Luft mehr zum Atmen ließ? Geben wir genug Freiraum für dionysische Erlebnisse? Oder muss der Faden der Festkultur im Jugendalter abreißen und die Frei-Zeit zur andauernden Party werden, weil wir Angst haben, in der Erziehung alles richtig machen zu müssen – und das »Ausatmen« dabei vergessen?

Aus der Redaktion grüßt

Mathias Maurer