Die Temperamente – keine Lehre, eine Kunst

Liebe Leserin, lieber Leser, 

Elternabend, fünfte Klasse. Man begrüßt sich, setzt sich, redet noch ein bisschen. Einzelne Blicke wandern zur Wand, an der 35 Bilder aus der Heimatkunde hängen. Manche kräftig in den Farben und im Farbauftrag, manche blaß und zart, ja karg und spärlich. Bei manchen ist kein Fitzelchen an weißer Fläche mehr zu sehen, bei anderen ist viel »Luft« dazwischen. Heutiges Thema: Temperamente. Der Klassenlehrer führt in die vier klassischen Temperamente ein – erstes bestätigendes Kopfnicken der Eltern begleitet seine Ausführungen. Dann wird es konkret. Wir gehen die Bilder durch, es werden die dazugehörigen Kinder genannt. Es scheint auf der Hand zu liegen: der kräftige und dynamische Malduktus des einen Bildes zeigt den Choleriker, der akribisch-genaue und systematisch gestaltete den Melancholiker, der ruhige und gleichmäßige den Phlegmatiker und der vielgestaltige und farbenfrohe den Sanguniker. Diese Eindeutigkeit zeigt sich aber nur bei den wenigsten Bildern. Bei dem weit größeren Teil ist eine klare Zuordnung nicht auf Anhieb auszumachen.

Der Lehrer, ein alter Hase, scheint sich seiner Sache sicher. Die Eltern geraten dagegen ins Schwimmen: Was, mein Kind soll ein Sanguniker sein? Der Lehrer erläutert: Es gibt Mischtypen, bei denen das eine oder andere Temperament nicht auf Anhieb ins Auge springt. Goethe und Schiller hätten das in ihrer »Temperamentenrose« schön dargestellt. Da wird der Choleriker zum Abenteurer, wenn er einen Schuss Sanguinik hat, der Melancholiker mit phlegmatischen Einschlag zum Philosophen ... Es zeigt sich schnell, dass man genau hinschauen muss, dass nicht immer ein Temperament vorherrscht, und nicht zuletzt, dass die Dominanz eines Temperaments alters-, ja sogar situationsabhängig wechseln kann. Was so einfach und schlicht anfing, wird zunehmend kompliziert. Der Lehrer macht deutlich, dass ein schematisches Vorgehen nicht weiterführt, sondern in jedem Kind die Temperamente individuell gemischt sind. Es sei eine Kunst, keine Lehre, die Temperamentsmischungen in ihrer lebendigen Dynamik und Differenziertheit zu erkennen. Die künstlerische Methode sei die angemessenste, um sich von diesen »Farben der Seele« ein Bild machen zu können. Das klingt einleuchtend.

Heute ist die sogenannte Temperamentenlehre Rudolf Steiners in die erziehungswissenschaftliche Diskussion gekommen. Die Frage ist, ob ihre Forschungsmethoden dem Forschungsgegenstand gerecht werden. Fasst man die Temperamente schematisch auf und untersucht man sie gleichermaßen mit schematischen empirischen Methoden und Begriffen, droht die Gefahr, sich den erziehungskünst­lerischen Blick zu verstellen. Ohne lebensnahe Beobachtungen, qualitative, biographische und phänomenologische »Sättigung« bleiben diese Zahlen allerdings leeres Stroh. 

Aus der Redaktion grüßt 

Mathias Maurer