Ernst des Lebens

Liebe Leserin, lieber Leser!

»Kann mein Kind hier Abitur machen?« Das ist – meist vor allen pädagogischen Fragen – die erste Frage, die Eltern auf einer Infoveranstaltung an einer Waldorfschule stellen.

Viele Eltern scheinen Zweifel zu hegen, dass trotz oder wegen einer »heilen« Waldorfkindergartenzeit die Klassenlehrerzeit »leistungsorientiert« genug ist, um ihre Kinder auf den »Ernst des Lebens«, der nun einmal mit der Schulzeit beginnt, vorzubereiten. Den Kindern soll es doch besser gehen als den Eltern und alle Optionen für eine berufliche Karriere sollen ihnen offen stehen, die das Bildungssystem bietet. Ein weiterer Teil macht die »Kuschelpädagogik« noch bis zum Ende der Klassenlehrerzeit mit. Denn in Anbetracht der schulischen Leistungen ihrer Kinder, die keinem Vergleich mit staatlichen Schülern standzuhalten scheinen, knicken auch sie ein, und der »Ernst des Lebens« beginnt dann acht Jahre später. Gleichzeitig füllen sich die Klassen wieder mit Quereinsteigern, die genau diesen »Ernst des Lebens« schon leidvoll kennengelernt haben. Erleichert atmen manche auf, wenn der Druck Richtung Abschlüsse steigt. Doch dass der »Ernst des Lebens« an Waldorfschulen erst beginnt, wenn es auf die Prüfungen zugeht, entspricht nicht den Tatsachen. Waldorfschulen sind nicht frei von gesellschaftlichen Ansprüchen und Systemzwang. Die Eltern verlangen und die Lehrer machen mit. Die Schüler werden gar nicht gefragt. Dieser gymnasiale Trend lässt die klassische zwölfjährige Waldorfschulzeit erodieren: nach Leistung differenzierte A-, B-, C-Züge, prüfungsrelevanter Lernstoff, Punkte, Tests ... schon mit Beginn der Oberstufenzeit ab Klasse neun. Hat man sich als Schule darauf eingelassen, geht es nicht ohne Hausaufgaben, Kontrolle, Nachhilfe, Leistungsdifferenzierung und Notenzeugnisse.

»Unangepasste« Waldorfschulen verlangen auch Leistung – aber eine andere, umfassend menschen­­-­bildende, und sie ist intrinsisch motiviert, nicht äußerlich auferlegt, nicht von Prognosen des Marktes, der Wirtschaft oder Statistik diktiert. Sie zielt nicht nur auf die Kultivierung des Intellekts, sondern gleichermaßen in salutogenetischer Absicht auf die des Gemüts- und Willenslebens.

Waldorfschulen sollten sich der Testeritis und dem Prüfungswahnsinn entziehen und dafür einzusetzen, dass auch hierzulande ihr Abschluss nach zwölfjähriger Schulzeit als gleichwertig anerkannt wird und zu einem Hochschulzugang berechtigt, wie es in Schweden, Norwegen, Belgien (Flandern) und Neuseeland schon heute möglich ist.

Denn es scheint, es sind unsere eigenen Zukunftsängste, die wir auf unsere Kinder projizieren. Wie sollten sie die Welt nachhaltig verändern lernen, wenn nicht das System als solches in Frage gestellt würde? Wie sagte Albert Einstein: »Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.«

Aus der Redaktion grüßt

Mathias Maurer