Förderwahn

Mathias Maurer

Eltern und Lehrer, Hortnerinnen und Kindergärtnerinnen – alle handeln in der erzieherischen Absicht und in der Hoffnung, dass diese Entfaltung kindlichen und jugendlichen Potenzials sich vor ihren Augen ereignet, wie das Schlüpfen des Schmetterlings aus der engen Puppe. Diese Erwartung ist berechtigt – aber je höher gesteckt, desto tiefer mögliche Abstürze. Denn Erwartungen können Druck ausüben. Und den spüren Kinder und verteidigen instinktiv ihr Eigensein und ihr Recht auf individuelle Entwicklung, auch wenn sie aus Erwachsenensicht von der Normalkurve abweichen und zur Unzeit in Gang kommen.

Es ist also zu fragen: Was trage ich als Erwachsener selbst in mir an Vorstellungen und Bildern, was halte ich für entwicklungsförderlich? Unterliege ich einem geheimen Optimierungszwang? Wo fördere ich mich und was erlebe ich als förderlich für mich? Wo fühle ich mich unterfordert? Überfordert mich eine Heraus­forderung oder lässt sie mich über mich selbst hinauswachsen? Nehme ich mich bei meinen eigenen

Entwicklungsversuchen, und auch bei meinem Scheitern ebenso liebevoll an die Hand, wie ich es jedem Kind wünsche? – Rasch wird man bemerken, wie man gegen Normkonzepte, vorschnelles Urteil, gegen den eigenen inneren Scharfrichter, anzukämpfen hat und die Freiräume, auf die jede Entwicklung und Entfaltung angewiesen ist, zu verteidigen und immer wieder herzustellen sind. Es ist also zuallererst daran zu denken, den inneren Entwicklungsraum zu bereiten.

Überzogene Erwartungen an sich und die Kinder sind keiner Entwicklung förderlich. – Wir müssen jetzt Fördermaßnahmen ergreifen – eine entlarvende Formulierung, denn sie klingt nach Zwang und Enge, künstlichem Wehentreiber, dem Gegenteil von förderlichen Entwicklungsräumen. Der allgemeine Förderwahn quer durch alle Erziehungs- und Bildungsschauplätze ist Ausdruck dafür, dass das Vertrauen in die eigenen Selbstentwicklungskräfte und die der Kinder abgenommen hat.

Da sind wir also voll gefordert.