Freiheit für die Oberstufe

Mathias Maurer

Liebe Leserin, lieber Leser,­ 

Die Waldorfoberstufe ist ein seltsames Zwitterwesen: Scheinen die Waldorfmethoden nach dem Motto »Erziehung zur Freiheit« in der Klassenlehrerzeit noch unangefochten, werfen in der Oberstufe die Abschlüsse ihre Schatten voraus und bringen zunehmend »systemfremde« Elemente ins Spiel: Notendruck und Prüfungsstress. Manche Schulen »differenzieren« schon nach der zehnten Klasse: A-, B-, C-Kurse, sprich, Mittlere Reife, Fachhochschule oder Abitur. Gemeinsames Klassenspiel oder Abschlussfahrt ade – der Klassenverband hat sich bis zur Zwölften aufgelöst.

Gegliedertes staatliches Schulwesen, nur etwas netter und kompakter? Dabei weiß seit der bayerischen Farce der Heraufsetzung des Abiturdurchschnitts per minis­terialem Dekret jeder halbwegs informierte Mensch, wie absurd solche staatlichen Prüfungsveranstaltungen sind.

Doch was ist in den letzten dreißig Jahren geschehen, dass sich in der Waldorfschule als hochgelobte Einheitsschule eine schleichende »Binnenselektion« einnistete?

Elterndruck und Lehrernot? Haben sich die Schüler verändert, die Lehrer, die Eltern? Sind in der Oberstufe überhaupt genügend ausgebildete Waldorflehrer? Oder sind große Klassen mit Schülern aller Begabungsniveaus heute einfach nicht mehr zu unterrichten? Fragen tatsächlich die meisten Eltern schon bei der Einschulung nach den Abschlussmöglichkeiten? Ist es tatsächlich der Geldmangel, dem die waldorfspezifischen Fächer zum Opfer fallen? Endstation Waldorfgymnasium – Alternativschule mit Profilmerkmal Waldorf? Dabei haben Waldorfschüler nichts zu befürchten: Sie schneiden trotz der vielen Kunst und den exotischen Unterrichtsfächern genauso gut ab wie ihre Kollegen an staatlichen Schulen und leisten in ihren Berufen gesellschaftlich Außerordentliches. Also, was ist da los?

Die Gründe für diese Entwicklung liegen auf politischem Felde, denn dort wird über die finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen von Schulen entschieden. Könnte es sein, dass die politische Abstinenz der Waldorfidealisten diesem Pragmatismus Vorschub geleistet hat? – Darauf brachte mich ein leitender Beamter des Oberschulamtes. Er antwortete mir auf meine Frage nach den Aussichten auf ein eigenes Waldorfabitur: Das ist das einzig Vernünftige. Sie arbeiten doch auch nach ihren eigenen Waldorfmethoden.

Andererseits: Waldorfschule heißt Waldorfpädagogik bis zur Zwölften. Danach mag (staatliche) Prüfungen ablegen, wer will. Denn eine Schule, die den Entwicklungsgesetzmäßigkeiten der Kinder und Jugendlichen gemäß unterrichten möchte, braucht vor allem Freiraum.

Mathias Maurer