Höhere Gewalt?

Mathias Maurer

Doch sie kann rasch ihr menschliches Anlitz verlieren, wenn sie als Begründung und Mittel zur Herstellung idealer Zustände ausgeübt wird – sei es in extremer Form durch selbstkasteiende Bulemie oder Sprengstoffattentate.

Jeder Mensch übt – bewusst oder unbewusst – Macht aus, wenn er handelt. Übt er sie gegen sich oder andere in liebloser Weise aus, missbraucht er seine Macht, er wird zum Gewalttäter gegen sich oder andere. Selbst Selbstbeherrschung und radikaler Verzicht können Formen von Gewalt sein, wenn ich mich zum Sklaven meiner eigenen Prinzipien mache, meine Bedürfnisse und die der anderen dabei ignoriere. Gewalt ist nur möglich, wenn subtile wie offene Abhängigkeiten bestehen, die missbraucht werden.

Gewalt entsteht durch Inkongruenz. Wenn unter der Oberfläche eine andere Wahrheit waltet oder die Handlungsmotive andere als die vorgegebenen sind. Sie führen in die bekannte Schizophrenie öffentlichen und privaten Handelns, wofür es – ob in Geschichtsbüchern prominent oder in alltäglicher psychotherapeutischer Praxis geheim dokumentiert – zahllose Beispiele gibt. Wenn Widersprüche auf Dauer nicht integriert werden können, wenn Bezug und Zusammenhang verloren gehen, wenn sich innere Leere breit macht, werden einfache Antworten gesucht, muss einheitsstiftender Sinn erzeugt werden – und sei es gewaltsam.

Gewalt entsteht also immer dort, wo der innere und äußere, der sogenannte niedere und höhere, der irdische wie göttliche Mensch nicht in freier und liebevoller Weise zusammenkommen. Denn der höhere Mensch muss nicht zwanghaft mit Gegengewalt, wo ihm Gewalt begegnet, reagieren, sondern kann frei handeln. Er kann sich auf seine innewohnende (Selbst-)Führungsfähigkeit besinnen.

Betrachtet man jedoch den Menschen als intelligentes Tier, das gar nicht anders kann, als auch innere und äußere Kriege und Katastrophen auszulösen, die all seine Gewalttätigkeit als eine instinkthafte Naturnotwendigkeit erscheinen lässt, die nur mit äußerster zivilisatorischer und politischer Anstrengung in Zaum gehalten werden kann, liegt die Antwort nahe, Freiheit mit Gewalt verteidigen zu müssen.

Mahatma Ghandi lebte das Gegenteil dessen. Er formulierte, dass das »Auge-um-Auge-Prinzip blind mache und »wenn wir wahren Frieden in der Welt erlangen wollen, müssen wir bei den Kindern anfangen«.

Dieser Anfang besteht darin, Kindern Grenzen zu setzen. Dafür brauchen die Kinder Vorbilder. Goethe beschreibt in dem Gedicht »Die Geheimnisse«, was diese Vorbilder zu leisten haben, um diesem Frieden näher zu kommen: »Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet.« Dann kann Liebe zu einer gewaltigen Erfahrung werden.