Stoffwechsel

Mathias Maurer

Henry sinkt zurück – zu schwierig diese Frage. Am nächsten Tag werden Referatsthemen verteilt. Er meldet sich zum Thema »Judenverfolgung im Nationalsozialismus«, er hatte es eigentlich gar nicht vorgehabt. Die Jahre vergehen. Henry kommt gerade so durchs Abitur, taucht ab, geht auf Reisen, irgendwann beginnt er mit einem Studium und jobbt als Taxifahrer ...

Wir befinden uns selbst im Wachzustand in einem ständigen Wechsel von Schlafen und Wachen. Hören wir zu, treten aus uns heraus, drohen wir »einzuschlafen« in den Redenden. Reden wir selbst, kommen wir zu uns selbst, wir »wachen« auf.

Im »richtigen« Schlaf wandeln wir das am Tag Erlebte und Erfahrene um. Wir verdauen es regelrecht. Die seelisch-geistige Integration läuft meist unbewusst ab – man bezeichnet diesen Prozess als Lernvorgang. Das Gelernte steht nicht immer gleich zur Verfügung, als müsste es noch länger reifen – in der Nacht.

Wir wissen heute, dass der Mensch im Schlaf nicht untätig ist. Gehirn und Stoffwechsel laufen auf Hochtouren und seelisch leisten wir Schwerstarbeit – und doch wachen wir erfrischt auf – ein Hinweis auf die berechtigte Frage, was uns eigentlich regenerieren lässt.

Und es gibt noch längere Wellen des »Schlafens« und »Wachens«, die erst im Rückblick zu Tage treten. Unter der Oberfläche unseres bewussten Lebens geschieht Entscheidendes: Wir schließen an eigene innere Impulse an, die uns zum Lernen anregen, zunächst vielleicht noch unbemerkt, manchmal schlag­artig. Dabei kommt es darauf an, jeden »Stoff«, jeden Weltinhalt erst einmal zu individualisieren, um diesen dann der Welt zurückzugeben. Dieser Wechselvorgang des Vergessens und Erinnerns bedeutet Lernen.

Nach Rudolf Steiner kann sich die unglaubliche Leistung des heranwachsenden Menschen, die er beim Gehen-, Sprechen- und Denkenlernen vollbringt, nur mit Hilfe der Engel vollziehen. Im Erwachsenen­alter emanzipiert sich der Mensch von dieser geistig-unbewussten Unterstützung; es steht ihm frei, durch sein höheres Selbst seine weitere Entwicklung in die Hand zu nehmen, Lebensaufgaben zu entdecken und Schicksalsfragen zu stellen, die selbst vor der Frage des Wechsels von Tod und Wiedergeburt als eine Form des Schlafens und Wachens nicht Halt machen. Dafür braucht es manchmal einen langen Atem und die unerschütterliche Zuversicht von Eltern und Pädagogen, dass scheinbar Unmögliches möglich werden kann. – Heute lehrt Henry übrigens Geschichte. Sein Spezialgebiet sind totalitäre Regime.