Über die Krise hinaus

Mathias Maurer

Es ist daher nicht verwunderlich, dass auch in ihnen Menschen aufeinandertreffen, die ihrem Selbstverständnis nach die Grenzen einer freiheitlichen Demokratie unterschiedlich ziehen. Da sich die Waldorfschulen als »freie« Schulen verstehen, die mit ihrem Bildungsauftrag gesellschaftliche Verantwortung übernehmen, allerdings möglichst frei von staatlichen Vorschriften oder Eingriffen –, spitzt sich die allgemeine gesellschaftliche Konfliktlage an ihnen sogar noch zu. Um so größer sind die Anstrengungen, den Dialog und das gegenseitige Verständnis aufrecht zu erhalten. Doch alles, was man als Gesprächsbereitschaft und Ambiguitätstoleranz einem erwachsenen Menschen abverlangen kann und muss, scheitert aktuell, wenn Kinder einer Situation ausgesetzt sind, die sie oder einen ihrer Mitschüler von der Gemeinschaft trennt. Was Schülern Angst macht, ist, ein Anstecker oder Angesteckter zu sein. Oder möglicherweise ganz zum Paria zu werden, wenn sie nicht getestet, maskenbefreit oder nicht geimpft sind. Die Kinder erleben: Ich bin potenziell ein Virus und gefährlich und alle anderen auch. Ist das Ergebnis positiv, sind sie tatsächlich draußen.

Auch lässt sich tendenziell beobachten: Je kleiner die Schulkinder sind, desto skeptischer werden die Lehrerinnen und Lehrer, weil sie im Anblick der maskierten Kinder so nicht unterrichten können. Auf der anderen Seite üben Eltern massiven Druck auf die Schulen aus: »Wir schicken unser Kind nicht mehr in die Schule, wenn nicht Masken getragen werden und getestet wird.« Gleichermaßen gibt es Eltern, die ihre Kinder nicht mehr in die Schule schicken, weil sie dort Masken tragen müssen und getestet werden sollen. In der Mittelstufe beobachten die Lehrer, dass vor allem diejenigen Kinder schulisch über die Runden kommen, die schon relativ selbstständig ihren Alltag samt Hausaufgabenpensum bewältigen und konzentriert lernen können. Alle anderen haben es schwer, sehr schwer – vor allem wenn die elterliche Unterstützung nicht geleistet werden kann, und das betrifft nicht wenige; sie fallen aber normalerweise in einem geregelten Schulalltag nicht auf, weil sie mit der Klassengemeinschaft mitschwimmen. Die große Sorge ihrer Lehrer ist nicht der stoffliche Nachholbedarf – manche sind ein gefühltes Jahr nicht in der Schule gewesen –, sondern: Finden sie jemals wieder in ein geregeltes Arbeiten zurück? In der Oberstufe zeigen sich seit dem zweiten Lockdown laut Umfragen zunehmende psychische Belastungen, Zukunftsängste und Einsamkeitsgefühle. Die jungen Menschen äußern, dass sie einfach nicht gehört worden sind, mit Verzicht auf Freunde, Bewegungsfreiheit und Selbstentfaltung – kein Klub, kein Klassenspiel, keine Klassenfahrt, kein Abiball. Sie fordern: Über die Krise hinausdenken und echte Beteiligungsmöglichkeiten – wobei wir wieder am Ausgangspunkt angekommen wären: Demokratie beginnt mit der Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung. Sie einzuüben gehört zum schulischen Auftrag.