Vertrauensfrage

Liebe Leserin, lieber Leser!

Lars wächst in wohlgeordneten Verhältnissen und in einer liebevollen Umgebung mit zwei älteren Geschwistern auf. Er hat viel Zeit zum Spielen, ein anregendes, gebildetes soziales Umfeld, in dem auch ein religiöses Leben gepflegt wird; er ist viel draußen in der Natur. Seine Eltern hätten es kaum besser machen können.

Mit neun fängt es an: Lars wird furchtbar anstrengend. Kaum ein Mittagessen ohne Geschrei, kaum ein Unterricht, aus dem er nicht rausfliegt. Lars lebt, als wäre er allein auf der Welt, auch mit seinen Gefühlsäußerungen und Handlungsweisen. Sein Lern- und Kommunikationsstil, heißt es, wird zu einem »untragbaren« Problem. Von diesem Problem scheint Lars keinerlei Bewusstsein zu haben, er fühlt sich immer nur ungerecht behandelt. Zunehmend gerät er in soziale Isolation, die Eltern sind ratlos, die Lehrer genervt. Therapeutische Hilfe verweigert er. Lars rebelliert. Auf seinem T-Shirt der Aufdruck Smash the System. Mit Ach und Krach macht er den Hauptschulabschluss und verlässt die Schule, während seine Geschwister wie geölt durch die Schulzeit laufen und später studieren.

Seine neuen Freunde kommen aus schrägem Milieu, Drogen und Gerichte »schmücken« seine weitere Karriere. Er geht auf große Tour. Letzte Lebenszeichen aus dem Nahen Osten. Die heimische Phantasie treibt vom Drogenhändler bis zum Terroristen Blüten. Dann reißt der Kontakt zu seinen Eltern endgültig ab.

Lars ist heute Mitte vierzig und lebt mit seiner Familie auf einem Biohof, der schwererziehbare Jugend­liche betreut. Bis heute lässt er sich nicht in sein Leben reinreden und geht seinen Weg. Er musste sich diesen Weg gegen wohlmeinende Liebe, Erwartungen und Ratschläge, aber auch Misstrauen erkämpfen. Selbst als Erwachsener beugt sich Lars nicht dem Wahn der Selbstoptimierung. Er will einfach ein eigener freier Mensch sein und sein »Ding machen«. Seine Erlebnisse und Erfahrungen haben ihm aber einen Schatz erschlossen, den kein Studium, keine Schule, kein Elternhaus hätte heben können: Wie es gelingen kann, mit jungen Menschen in Grenzsituationen eine Gemeinschaft zu bilden – statt sie sich selbst zu überlassen oder auszusondern.

Eine solche Biographie, die kein Einzelfall ist, beruhigt. Denn selbst wo pädagogische Phantasie, erzieherischer Rat und bereitgestellte Karriereleitern enden, vermag sich eine Individualität radikal durchzu­setzen und Neues und Eigenes in die Welt zu bringen. Wie sollte es auch anders in die Welt kommen, wenn es nicht in das bisherige System passt? Offenbar war die Umgebung blind für den Lebensimpuls von Lars, aus Angst vor schulischem Versagen, aus elterlichem Ehrgeiz, das Beste an materiellen und ideellen Werten in ein junges Leben einpflanzen zu müssen.

Aus der Redaktion grüßt

Mathias Maurer