Ein ambivalenter Sympathisant. Der Filmemacher Christian Labhart

Ute Hallaschka

Was er an der Anthroposophie schätzt, ist die soziale Gestaltung des Denkens, Themen wie Geld und soziale Ungerechtigkeit, die philosophische Grundhaltung der Güte und des Individualismus. Was ihn daran interessiert, ist die Kraft der kulturellen Auseinandersetzung, die anregenden Gedankenkeime und der gesellschaftliche Dialog, der sich aus Rudolf Steiners Texten gewinnen und erarbeiten lässt. Worauf er gut verzichten kann, sind Sektierertum, Besserwisserei und Dogmatik. Doch das hat ihn nicht daran gehindert, nun schon dreimal anthroposophische Projekte mit der Kamera zu begleiten: »Zum Abschied Mozart« (2006) dokumentiert ein Chorprojekt an der Waldorfschule Wetzikon in der Schweiz. »Zwischen Himmel und Erde« (2009) porträtiert Menschen, die im Umfeld der Anthroposophie leben und arbeiten. Schließlich begleitete er mit der Kamera das bekannte Eurythmie-Projekt »What moves you?« (2013). Sich selbst bezeichnet er als ambivalenten Sympathisanten der Anthroposophie. Doch hatte er Versuche, als »Hofberichterstatter« zu funktionieren, immer zurückgewiesen.

Im wahrsten Wortsinn ist Labhart der Zukunft auf der Spur. Was zu seinem Filmwerk führt, liegt auf seinem Lebensweg. Dem Zeitgeschehen spürt er die dokumentarischen Möglichkeiten ab. Mit seiner filmischen Arbeit begann er vor fünfzehn Jahren eher zufällig, als er noch Lehrer war. Eine Weiterbildungsmaßnahme gewährte ihm damals Zeit und Möglichkeit, vorübergehend aus dem Schulbetrieb auszusteigen und sich dem Weltgeschehen zu widmen. Es war zur Zeit des Kosovo-Krieges. Labhart interviewte Kinder vor Ort, die von ihrem Erleben des Krieges berichteten. In den Folgejahren widmete er sich verschiedensten Projekten, immer stand im Zentrum die menschliche Individualität. So auch in seinem aktuellen Werk »Giovanni Segantini – Magie des Lichts«.

Die Welt innerlich erscheinen lassen

In der Schweiz ist »Giovanni Segantini« mit über 50.000 Zuschauern bereits der erfolgreichste Dokumentarfilm des Jahres. Seit September läuft der Film auch in Deutschland. Anders als in der Schweiz ist Segantini, der Maler aus dem Engadin, hierzulande ein großer Unbekannter. Das wird sich nun hoffentlich ändern. Wer den Film gesehen hat, möchte auf der Stelle nach St. Moritz ins Museum, um die Originale anzuschauen. Welch eine Entdeckung! Man traut seinen Augen kaum: Ist das nicht van Goghs dynamische Malweise, Turners Lichtbehandlung? Was Segantinis Kompositionen aber so einzigartig macht, ist das Betrachter-Gefühl: Die Welt wird in ihrer Äußerlichkeit von innen gesehen. Als wäre alles Seele. Die Motive, vor allem die Berge, Tiere, das bäuerliche Leben erscheinen ganz gegenständlich und doch alles andere als naturalistisch. Sie sind von leuchtender Durchlässigkeit. Segantini hat den schöpferischen Blick des Betrachters mit hineingemalt – reine Farben, unvermischt aufgetragen und jeweils zwischen zwei Pinselstrichen einen feinen Leerraum gelassen.

Aber wie ist das überhaupt möglich, in einem Film Gemälde zu zeigen? Was Labhart hier leistet, ist eine Neuerfindung des Sehens – im Wechsel von Totale und Detail, von Wiederholung, Übergleiten der Fläche, Innehalten bei einer überraschenden Entdeckung. Der Film erzählt von der Hingabe des Schauens – wir sehen uns beim Sehen zu.

Wie dem Maler Segantini scheint auch Christian Labhart eine besondere Gabe eigen, die Welt innerlich erscheinen zu lassen, aus der jeweiligen Perspektive des Dargestellten. Was seine Filme einzigartig macht, ist die Gestaltungskraft, die geistige Präsenz, welche die Abstinenz des Dokumentarischen so belebt, dass dem Zuschauer die Augen aufgehen. Für ganz neue Ansichten.

Die Offenheit, die sein Schaffen charakterisiert, ist keine Attitüde. Er weiß noch nicht, was sein nächstes Thema sein wird. Doch er vertraut darauf, dass seine Ziele ihn finden. Wahrscheinlich könnte er die folgenden Zeilen – aus einem Brief von Giovanni Segantini – aus vollem Herzen unterschreiben: »Ich habe die Welt gekannt und all ihre sozialen Schichten; nicht von fernher, sondern ich lebte darin und erfuhr so all ihre Leidenschaften, ihre Schmerzen, ihre Freuden und ihre Hoffnungen. Ich sah Blumen weinen und Würmer lächeln. Ja, ich habe gelebt, ohne zu vegetieren, ich habe wirklich gelebt.«