In Bewegung

Ein besonderes Waldorf-Narrativ? Information und Desinformation

Sanne Dufft
Illustration: Sanne Dufft

Im Februar 2020, das Coronavirus ist gerade erst im Bewusstsein der Allgemeinheit angekommen, warnt der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation Tedros Adhanom Ghebreyesus vor einer sich parallel zur Pandemie ausbreitenden Infodemie: «Fake News verbreiten sich schneller und einfacher als dieses Virus, und sie sind genauso gefährlich.»

Auch in sozialen Netzwerken im Umfeld der Waldorfschulen war dies zu beobachten. Auch hier wurden Impfungen als Todesspritze bezeichnet, Wissenschaftler:innen diffamiert, und Infektionsschutzmaßnahmen mit NS-Verbrechen gleichgesetzt. Gemeinsam mit Akteur:innen der extremen Rechten wurde demonstriert, und Protest­aktionen mit antisemitischer Konnotation geplant und durchgeführt. Es hat mich erschüttert zu beobachten, dass diese Strömungen für Teile der Waldorfbewegung attraktiv waren. Der Bund der Freien Waldorfschulen hat sich von solchen Umtrieben distanziert. Auch die Mehrheit der Eltern und Mitarbeitenden steht diesen Extrempositionen der Querdenkerbewegung wohl kritisch gegenüber. Und doch: Ein allgemeines Misstrauen gegenüber den Maßnahmen ist an den Schulen seit Beginn der Pandemie allgegenwärtig. Es gab Maskenatteste, es gab Widerstände gegen Schnelltests und Vorbehalte gegen die Impfungen. Meine Erfahrungen an unserer Waldorfschule decken sich mit der Berichterstattung in den Medien.

Es gibt in der Waldorfbewegung eine Affinität zur Corona- und Maßnahmenskepsis. Wie kommt es zu dieser Anziehung, was sind die Folgen – und wie können wir, Eltern und Mitarbeiter:innen an Waldorfschulen, ihr begegnen?

Die Waldorfpädagogik und die anthroposophische Medizin haben denselben Ursprung. Sie beide suchen nach individuellen und ganzheitlichen Antworten auf Fragen, die das menschliche Leben betreffen. Beide haben den Anspruch, den ganzen Menschen im Blick zu haben. Die anthroposophische Medizin setzt auf Stärkung des Immunsystems und nicht auf die Unterdrückung von Symptomen. Liegt es da nicht nahe, Aussagen über die Gefährlichkeit der Infektion, über die Wirkung allgemein angeordneter Maßnahmen und einen neuartigen Impfstoff kritisch zu hinterfragen? Wo diese Skepsis nun auf Falschinformationen trifft, können aus berechtigten Fragen und Zweifeln schnell Überzeugungen werden.

«Wenn wir ein gutes Immunsystem haben, dann kann uns das Virus überhaupt nichts ausmachen.» – «Die Zahl schwerer Komplikationen nach Impfungen ist vierzigmal höher, als offiziell bekannt.» – «Ob es Long Covid bei Kindern und Jugendlichen überhaupt gibt, ist wissenschaftlich umstritten.» – «Psychiatrische Vorerkrankungen sind der größte Risikofaktor bei Long Covid.» – «Schutzmaßnahmen haben keine Auswirkung auf das Infektionsgeschehen. »Diese Zitate stammen aus der Feder von Mediziner:innen, Publizist:innen, Vortragenden, aus Blogs und Twitter Feeds der anthroposophischen Szene. Wie viele von uns würden diesen Aussagen zustimmen? Fakt ist: Sie alle sind grob irreführend oder nachweislich falsch! An Covid-19 sind inzwischen weltweit mehrere Millionen Menschen verstorben, darunter auch junge, vormals gesunde. Die Impfstoffe sind intensiver überwacht worden als irgendein Impfstoff zuvor. Long Covid existiert – auch bei Kindern – und schränkt die Lebensqualität einer großen Zahl von Betroffenen massiv ein.

In jeder Form von Kommunikation müssen wir mit Unschärfen, Missverständnissen und Irrtümern umgehen. Im Netz begegnet uns zusätzlich Desinformation, die darauf abzielt, den gesellschaftlichen Zusammenhang zu schwächen. Dies geschieht durch Verharmlosung der Pandemie und Falschinformationen zu den Impfungen.

Es bilden sich Echokammern, in denen wir Bestätigung der eigenen Haltung erfahren, von Gegenpositionen aber nur ein Zerrbild zu sehen bekommen.

So entsteht ein Narrativ, das sich vom wissenschaftlichen Diskurs immer weiter entfernt. Ich meine, dies in der Waldorfszene in besonderem Maße zu beobachten.Was sind die Folgen? Die Gesundheit von Schüler:innen, Lehrkräften und ihren Familien wird gefährdet. Dadurch, dass Masken, die, als verzichtbar oder schädlich erklärt, gar nicht oder nur unsorgfältig  getragen werden. Durch das Unterlassen von Impfungen, die die Wahrscheinlichkeit schwerer Verläufe und bleibender gesundheitlicher Schäden nach einer oder mehreren Infektionen verringern. Durch das Unterlassen von Tests, die die Verbreitung des Virus einschränken könnten.

Der Zusammenhalt der Schulgemeinschaft wird aufs Spiel gesetzt: Eine Gemeinschaft, die Gesundheitsrisiken in einer Pandemie herunterspielt, lässt Vulnerable im Stich. Es gibt zahlreiche Familien, die direkt von Corona betroffen sind. Kinder, die wissen, dass eine Infektion für sie selbst oder ein vorerkranktes Familienmitglied gefährlich wäre. Erfahrungen von Eltern, die in Medizin und Pflege unter großen persönlichen Opfern mit Covid-19 Patient:innen arbeiten, werden negiert. Waldorfschulen isolieren sich innerhalb der Schullandschaft und der Gesellschaft.

Für die Waldorfbewegung ist es entscheidend, sich einzugestehen, dass eine Affinität zur Maßnahmenskepsis besteht, und diese als solche zu benennen.

Für die Bewertung der Gesundheitsrisiken eines neuartigen Virus können wir, als einzelne und als pädagogische Einrichtungen, uns nur am wissenschaftlichen Konsens orientieren – und müssen akzeptieren, dass dieser sich in dieser dynamischen Situation ständig weiterentwickelt. Es gilt, Quellen zu prüfen und zu hinterfragen, gerade auch dann, wenn sie unser Weltbild bestätigen. Von selbsternannten Expert:innen, die weiterhin Irreführendes veröffentlichen, müssen wir uns klar distanzieren – gerade auch innerhalb der Waldorfszene.

Haben wir nicht auch eine Affinität zu Solidarität, Empathie und Rücksichtnahme? Wenn wir uns darauf besinnen, können wir uns da einbringen, wo wir als Eltern und Lehrer:innen kompetent sind: Im kreativen pädagogischen Umgang mit der Situation, für die Schüler:innen.

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