Ein freiwilliges Jahr für die Erziehungskunst

Dirk M. Steiner

Am 1. Juli dieses Jahres wird die Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland erstmalig ausgesetzt und das Aus des Wehrdienstes ist in greifbare Reichweite gerückt. Gleichzeitig wirbt der neu ins Leben gerufene »Bundesfreiwilligendienst« (BFD) für ein zeitgemäßes, gesellschaftliches, ziviles Engagement – ein Ansatz, der auch für die Schulen neue Perspektiven eröffnet. Zukünftige Bundesfreiwillige können dadurch problemlos als Helfer im pädagogischen Bereich eingesetzt werden, was das Zivildienstgesetz bisher nicht zuließ. Die denkbaren Einsatzbereiche sind vielfältig, besonders an Ganztagsschulen. 

Kleine Teams von jungen Bundesfreiwilligen können über das ganze Schuljahr hinweg, klassenübergreifend als Projekthelfer für alle erlebnispädagogischen Aktivitäten, Klassenfahrten und außergewöhnlichen experimentellen Unterrichtsstunden zur Verfügung stehen. Zuvor könnten sie bei einer waldorfpädagogisch orientierten Einrichtung eine mehrwöchige Ausbildung machen und über das Jahr verteilt Zusatzkurse besuchen. Auch das Kollegium könnte davon profitieren und die Expertise der Bundesfreiwilligen hier und da für sich selbst in Anspruch nehmen. Klassenfahrten könnten von den Bundesfreiwilligen (nach Absprache) maßgeschneidert konzipiert, organisiert, durchgeführt und nachbereitet werden. Für junge Erwachsene kann dieses erlebnis- und verantwortungsreiche, projektartige Arbeiten eine erfüllende Aufgabe und pädagogische Erfahrung, ein »freiwilliges Jahr in der Erziehungskunst« sein – mit nicht unbeträchtlicher Auswirkung hinsichtlich zukünftiger Waldorflehrer- und Studentengewinnung. Einen Einstieg könnten Schulen oder erlebnispädagogische Einrichtungen bieten, indem sie pädagogisch und reflektierend begleiten und am Ende sogar eine qualifizierte Tätigkeitsbescheinigung ausstellen. Ebenfalls denkbar wäre, sich ein solches Team innerhalb mehrerer Schulen eines Umkreises zu teilen.

Es könnte ebenso bedeuten, dass sich komplette Ober­stufenklassen (technisch ab Ende der »Schulpflicht«) geschlossen zum Freiwilligendienst in einem oder verschiedenen Projekten anmelden und ein »praktisches Halbjahr« einrichten, das durch die Schule mitgestaltet und betreut wird. Eine weitere Variante wäre die Einrichtung eines ganzjährigen »Praktischen Zuges« für den oftmals auch als »B-Gruppe« bezeichneten Teil der Klasse: Die Schüler würden, neben einem reduzierten Unterricht, jeden Tag (oder wöchentlich) praktische Erfahrungen in der Arbeit mit einem pädagogisch verzahnten BFD-Projekt sammeln. Vielleicht ließe sich aushandeln, dass sich zwei Schüler eine Stelle teilen. Schulmüde Oberstufenschüler könnten während einer halb- oder einjährigen Auszeit, in einem körperlich fordernden Wiederaufforstungsprojekt mit anderen Jugend­lichen in den Alpen oder dergleichen arbeiten, ohne die Schule »schmeißen« oder Sorge um die Finanzierung jener Auszeit haben zu müssen.

Vielleicht kann mittels des BFD sogar der Zwölftklass-Jahresarbeit zu einer praktischeren Ausrichtung verholfen werden. Auch dem, an manchen Schulen existierenden »14. Schuljahr« (Abi und Ausbildung nach 14 Jahren, inklusive integrierter Berufs- oder Studienorientierung, etwa in Form eines erlebnispädagogischen Selbstfindungsprogramms), wäre hiermit eine weitere Chance gegeben. Obendrein würde uns das als Waldorfschulen im allgemeinen Wettbewerb attraktiv machen.

Wer freiwillig arbeitet, soll von der Gemeinschaft (mit)getragen, gratis verpflegt und kostenfrei untergebracht werden. Das ist bereits jetzt formaler Bestandteil des Dienstes. Bleibt zu hoffen, dass bundesweite Vergünstigungen wie freie Fahrt mit Bus und Bahn, Freibadbesuche und freier Eintritt zu kulturellen Veranstaltungen bald folgen, sodass man während seines Gesellschaftsdienstes das philosophische Konzept von »Gesellschaft« praktisch erlebt! – Das ist angewandte und erlebbar gemachte Gemeinschaftskunde, was Rudolf Steiner sicher gefallen hätte. Er forderte ohnehin, Gemeinschaftskunde nicht separat und abstrakt, sondern fächerübergreifend und erlebbar zu »unterrichten«.

Der BFD ist eine (finanzierbare) Chance, in der Oberstufe mehr Praxisbezug handwerklicher und gemeinschaftskundlicher Art zu integrieren. Er kann wesentlich dazu beitragen, die Schule wieder in der Gesellschaft zu verankern. Waldorfschulen sollten dabei vorneweg mitmischen. Das Spektrum der Möglichkeiten kann an dieser Stelle bestenfalls angedeutet werden. – Lasst euch als Dienststelle anerkennen! 

Zum Autor: Dirk M. Steiner (33), Diplom-Pädagoge, Waldorflehrer und EOS-Erlebnispädagoge. Zurzeit mit einem waldorf- und erlebnispädagogischen Forschungsprojekt an der Auckland University of Technology in Neuseeland befasst. E-Mail: dirk.steiner@aut.ac.nz

Link: Der Gesetzentwurf des BfdG ist auf www.bundesrat.de, unter Parlamentsmaterialien Beratungsvorgänge/Drucksachen, unter der Drucksachennummer [849/10] abrufbar. 

Die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V. bauen in Zusammenarbeit mit  dem Verband für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und Soziale Arbeit e.V. ihren Arbeitsbereich Freiwilligendienste um den Bereich der Inlandsdienste aus.

Engagierte Freiwillige ab Vollendung der Schulpflicht können ab Sommer 2011 über die Freunde vielfältige und einmalige Erfahrungen in Waldorfeinrichtungen bundesweit sammeln. Als Orientierungsjahr und als wichtiger Baustein in der Biographie hat ein Freiwilligendienst einen hohen Stellenwert für den persönlichen sowie beruflichen Werdegang. Bereits seit 1993 bieten die Freunde der Erziehungskunst internationale Friedensdienste weltweit und sind für ihre hohe Professionalität ausgezeichnet. 

Interessierte erhalten detaillierte Informationen unter www.freunde-waldorf.de. Tel.: 0721-354806-130/-146, E-Mail: u-decker@freunde-waldorf.de oder s.wurster@freunde-waldorf.de

Die EOS-Erlebnispädagogik vermittelt Plätze an Abgänger von Waldorfschulen für das »Freiwillige Soziale Jahr« (17-27 Jahre) und den »Bundesfreiwilligendienst« (ohne Altersbegrenzung) in anthroposophische Einrichtungen in Baden-Württemberg. www.eos-fsj.de