Ein Jahr ohne Muss

Jessica Gube

Schon früher zog uns das Fernweh in ein Volontärjahr nach Israel, in das anthroposophische Kinderheim Beth Uri in Galiläa. Nach dem ersten Klassenlehrerdurchgang legen wir – mit drei Kindern – ein Bauhelferjahr an der Waldorfschule La Mhotte in Frankreich ein, wo sich dann rasch auch Unterrichtstätigkeit hinzugesellt und aus einem vier Jahre werden. Ein weiterer Klassendurchgang folgt in Norddeutschland. 2009 schließt sich ein Freivierteljahr bei den Baobab Children in Ghana an, in einem waldorfpädagogisch impulsierten Jugend-Alphabetisierungsprojekt, wo wir als Lehrer mitarbeiten und unser Jüngster eine Art »verlängertes Landwirtschaftspraktikum« absolviert.

Nach dem nächsten Klassendurchgang zieht es uns erneut in die Welt. Es soll dieses Mal kein Arbeitsaufenthalt werden, sondern ein Jahr mit Reisen und Ruhen, außerhalb Deutschlands und anthroposophischer Einrichtungen, zumindest bezüglich möglicher Mitarbeit, einfach bar jeder beruflichen Verpflichtung. Danach ist die Rückkehr an die eigene Schule geplant.

Neben der Sehnsucht steht die Frage der Machbarkeit. Die eigenen Ideen treten ins Verhältnis zu denen der Schule, aus der man hinausgeht, und zu den Möglichkeiten der Finanzierung. Die Kollegen sind bereit, eine befristete Fachlehrervertretung zu suchen, die direkt anstehende Klassenführung wird von jemand anders übernommen und die nächste Klasse »reserviert«. Bereits acht Jahre vor dem Freijahr wurde eine Gehaltsregelung getroffen – die Einsparung eines Neuntelgehaltes monatlich und nach acht Jahren die Fortführung des Acht-Neuntelgehaltes auch während des Freijahres. Die Anstellung bleibt erhalten, was für beide Seiten Vorteile hat.

Loslassen lernen

Nach Überschreiten der deutschen Grenze Richtung Frankreich und Spanien verstärkt sich die leise Gewissheit, wirklich nichts zu müssen, viele Monate lang ohne den unerbittlichen Takt des täglichen Lebens »einfach sein« zu dürfen. Es dauert mehrere Wochen, bis aus dem zunächst sommerferienähnlichen Gefühl ein stärkeres Loslassen wird. Das Hindurchgehen durch den Tag in freudig-aktiver Gelassenheit wird Stück für Stück zur Gewohnheit.

Es folgen drei Monate in Mittelamerika – Mexiko, Guatemala, Honduras, Costa Rica – und auf Kuba. Wir sind mit Rucksack und öffentlichen Bussen unterwegs, suchen Übernachtungen direkt vor Ort oder buchen knapp vorher, tragen den großen Reiseweg als roten Faden in uns, entwickeln die Details aber erst während der Reise. Gute Reiseführer, deren Gewicht im Rucksack nicht beklagt werden darf, da ihr Wert für die eigene Planung nicht zu unterschätzen ist, sind unsere Begleiter. Die vorher ordentlichen Spanischkenntnisse erweitern sich in der Praxis mit Riesenschritten.

Vor Ort bekommt man oft die besten Tipps. Wir sind überwältigt von der Freundlichkeit und Offenheit in jedem Land, das wir bereisen, und erleben, wie gerne Menschen sich allerorten mitteilen, wenn sie spüren, dass man Interesse hat und sich auf sie einlässt. Nie Angst zu haben vor unüberschaubaren Situationen, ist immer wieder eine Erfahrung. Freundlich-entschlossenes Auftreten ist meist die beste Haltung. Plätze und Eindrücke wechseln: Dschungel und Maya-Stätten, Haciendas, bunte Trachten und noch buntere Märkte auf Yucatan und in Chiapas, dem tropischen Südmexiko, und im Petén, dem wilden Norden Guatemalas. Kakteenlandschaften und Delphine im offenen Pazifik, dazu die tagelang dauernde mexikanische Fiesta zum »dia de muertos« (Tag der Toten) in Oaxaca. Aktive Vulkane mit Marshmallow-Grillen über der heißen Lava auf dem Pacaya in Guatemala. Karibische Farbigkeit ebenso wie karibische Armut auf Utila, Bay Islands in Honduras, abseits der Routen der Kreuzfahrtsschiffe. Meeresschildkröten bei der Eiablage in Costa Rica. Krokodile, Affen, Leguane, Kolibris, Pelikane, Fregattvögel ... Schließlich der kubanische Sozialismus mit seinen grotesken Mängeln und Unfreiheiten, dazu Salsa- und Sonmusik in herrlichen Landschaften, frischgedrehte Zigarren, das unglaubliche Havanna und ein Tauchkurs im karibischen Korallenriff.

Randvoll, müde und glücklich geht es zurück in unser »Basislager«, ein kleines Häuschen in Spanien, um für acht Wochen zur Ruhe zu kommen.

Die zweite Dreimonatsreise führt im eigenen, ausgebauten Bus rund ums Mittelmeer. Von Spanien nach Marokko bis in die nördliche Sahara. Mit Mittelmeerfähren weiter nach Süditalien, Griechenland, in die Türkei, nach Israel, auf den Sinai und nach Ägypten zu vielerlei eindrücklichen Kultur- und Naturstätten. In jedem Land erleben wir die Verschränkungen der Kulturen miteinander und spüren wiederum, wie schon in Mittelamerika, dass die Dinge einfach zusammengehören auf der Welt – trotz aller Probleme und Nöte politischer, wirtschaftlicher oder religiöser Art. Gerade dies berührt immer wieder besonders: Neben dem Zauber der Vielfalt ist in jedem Land wahrzunehmen, dass es so viel Gemeinsames gibt, das Mensch und Welt überall verbindet. Drei Besuche in anthroposophisch inspirierten Einrichtungen – das Camphill-Dorf Galaxidi in Griechenland, ein eindrucksvoller Besuch auf der Sekem-Farm in Ägypten und schließlich ein Wiedersehen mit Beth Uri in Israel, wo wir vor 35 Jahren unser erstes Auslandsjahr verbracht haben, runden auch biographisch etwas ab.

Handys sind überall auf der Welt präsent, ebenso der Plastikmüll in den Meeren. Die Menschen wollen allerorten ein sinnvolles Leben leben, bemühen sich redlich und meinen es grundsätzlich gut miteinander. Sowohl das Schöne wie auch das Hässliche sind letztlich überall erstaunlich ähnlich. Die Welt ist so viel weniger schlecht oder gefährlich, als es die Medien vermitteln. Sie ist reich an Schönheit, Freude, Freundlichkeit. Es lohnt sich, sie zu lieben und sich für sie einzusetzen. Sie ist es wert.

Vier Wochen zum Ausruhen in Spanien. Und schließlich zurück nach Norden. Noch einmal vier Wochen zum Akklimatisieren in Mitteleuropa. Man muss sich aus der Weite der Welt sowohl seelisch wie körperlich wieder auf Innenraumformat »verkleinern«.

Reich beschenkt zurück

Erfrischt und mit neuer Kraft treten wir nun wieder unseren Schülern entgegen. Natürlich erzählt man ab und zu von den Erlebnissen des vergangenen Jahres, zeigt älteren Schülern Bilder, bringt für die Jüngeren etwas von den gefundenen oder erworbenen »Schätzen« mit, berichtet von Abenteuern, berät Dreizehntklässler, die auf dem Sprung in die Welt sind, gibt Unterstufenkindern Raum, wenn sie fragen: »Was hast du heute vor einem Jahr gemacht?« Auch Themen wie das Bewahren der Schöpfung im Sinne von elementarer Umweltpädagogik können einfließen.

Aber die eigentliche Botschaft liegt auf einer anderen Ebene und teilt sich dort auch mit: Es lohnt sich, in die Welt zu gehen und an ihr teilzuhaben, neben mancherlei Abenteuern vor allem auch zu erleben, dass die heute so häufig in den Medien verbreitete Angst vor Gefahren oder Kriminalität wenig mit der Lebenswirklichkeit zu tun hat, vorausgesetzt man übt etwas Umsicht und folgt seinem gesunden Menschenverstand. Die erneuerte Liebe zur Welt verändert auch im vermeintlich kleinen täglichen Leben etwas: Die Schüler haben auf wundersame Weise mehr Raum im Lehrerherz. Der eigene Großmut, die eigene Toleranz und Akzeptanz gegenüber den Schülern sind gewachsen. Frisch inspiriert und ein wenig großherziger: Vielleicht kann auch das in jungen Menschen das Vertrauen in das Leben stärken und Weltinteresse wie einen Funken überspringen lassen. Auch dafür lohnt sich ein Freijahr.

Es gibt einen Reiseblog zum Freijahr: jessiron.blogspot.de

Zur Autorin: Jessica Gube ist Französischlehrerin an der Waldorfschule Ostholstein/Lensahn.