Historisch

Ein nordisches Trio: Walter Liebendörfer, Frans Carlgren und Bengt Ulin

Nana Göbel
Frans Carlgren, Foto: © Mats Ola Olsson
Walter Liebendörfer
Bengt Ulin

Zu diesen Lehrern gehörten Frans Carlgren (1925–2014) und Brigitta Carlgren (*1928), der Mathematiker Bengt Ulin (*1928), der Künstler Arne Klingborg (1915-2005), Ingrid Stintzing-Eriksson (1916-1981) als Klassenlehrerin, und Walter Liebendörfer (1927–2002), der 1956 als Oberstufenlehrer für Biologie und Chemie anfing. Gemeinsam mit weiteren Kollegen legten sie das Fundament für die Waldorfpädagogik in Schweden und traten vehement für das Recht auf ein freies Bildungswesen ein. Und das sollte sich in dem vor allem sozialistisch regierten Land keineswegs als einfach erweisen.

Als Ende der 1960er Jahre Eric M. Nilsson in seinem Film En Skola die weltanschaulichen Vorurteile gegen Waldorfpädagogik in der Bevölkerung und in den Behörden kräftig unterstützte, verschlechterte sich die Stimmung gegenüber der Kristofferskolan. Die drei Oberstufenlehrer Bengt Ulin, Walter Liebendörfer und Frans Carlgren engagierten sich unerschrocken und eloquent an der darauf folgenden öffentlichen Auseinandersetzung.

Frans Carlgren stammte aus einer wohlhabenden Großindustriellen-Familie. Er studierte 1954/55 Waldorfpädagogik bei der ihn tief beeindruckenden Annie Heuser in Dornach, bevor er als Lehrer für Literatur und Geschichte an der Oberstufe der Kristofferskolan in Stockholm begann. Er gehörte später zu den Initiatoren einer schwedischen Waldorflehrerausbildung. Mit seiner Erbschaft erwarb er einen biologisch-dynamisch bewirtschafteten Hof an einer Stelle, die das Militär einige Zeit später für Übungen beanspruchte. Der Hof wurde enteignet und Frans Carlgren gründete mit dem Erlös eine Stiftung. Diese erwarb eine Villa – das sogenannte Weiße Haus – mit einem herrlichen Blick auf das schilfbewachsene Ostseeufer und die vorgelagerten Inseln sowie ein riesiges am Schärenufer der Ostsee gelegenes Grundstück in Järna. Dort begann Anfang der 1970er Jahre das Pädagogische Seminar als zweijährige Vollzeitausbildung. Sieben Jahre lang, 1968 bis 1975, leitete Jörgen Smit die skandinavische Waldorflehrerausbildung, bevor er ans Goetheanum in Dornach berufen wurde. Er übergab die Leitung der Lehrerausbildung an Walter Liebendörfer. Mitte der 1970er Jahre nahm das Interesse der Öffentlichkeit an der Waldorfpädagogik zu. Liebendörfer führte die Ausbildung genauso innerlich freilassend wie zuvor Jörgen Smit und mit vergleichbarem Tiefgang und Ernst, was Järna zu einem anziehenden Ausbildungsort für Lehrer­aspiranten aus Skandinavien, England, Holland und Deutsch­­land machte. Zu den herausragenden Veranstaltungen des Lehrerseminars in Järna zählte ein Ober­stufenlehrerkurs vom 14. Juli bis zum 3. August 1985 mit bewusstseinsgeschichtlichen Vorträgen sowie Fachkursen. Mit diesem Kurs begann eine erste intensivere gemeinsame nordische Ausbildung für Oberstufenlehrer.

Verbindungen in alle Welt

Walter Liebendörfer, Frans Carlgren und Bengt Ulin hielten viele Vorträge und Kurse im Ausland, was sich 1989/90, als die Waldorfpädagogik auch in Mittel- und Osteuropa Fuß fassen konnte, intensivierte. Bereits im Dezember 1988 sprach Walter Liebendörfer in der Wohnung von Anatolij Pinskij in Moskau, die wegen des Besucherandrangs aus allen Nähten platzte. Der Enthusiasmus war groß und führte dazu, dass Anatolij Pinskij gemeinsam mit anderen den Klub Aristotel gründete. Er war auf Einladung des Pädagogischen Forschungsinstituts des russischen Unterrichtsministeriums nach Moskau gereist, führte dort Gespräche und stellte auch in einem öffentlichen Vortrag die Grundlagen der Waldorfpädagogik dar. Damals war das Interesse an ausländischer Pädagogik in Russland so groß, dass die russische Lehrerzeitung den Vortrag abdruckte.

Mit Liebendörfer engagierten sich weitere Kollegen des schwedischen Waldorflehrerseminars in Russland. Im Sommer 1989 organisierten sie in Järna einen Kurs für Lehrer aus der Sowjet-Union und aus Polen und im Februar 1990 eine erste zehnwöchige Ausbildung für 35 Teilnehmer in Moskau und Järna zusammen mit Kollegen der Kopenhagener Vidarskolen und Ernst-Michael Kranich aus Stuttgart. Kranich und Liebendörfer führten Gespräche in Moskau, die schließlich in die Einrichtung einer Waldorflehrerausbildung als Abteilung der Russischen Öffentlichen Universität ab Ende September 1990 mündeten.

Liebendörfer engagierte sich auch in anderen Weltgegenden, sofern es seine Unterrichtstätigkeit zuließ, so zum Beispiel in Neuseeland und El Salvador.

Neue Arbeitsformen

Die Ausbreitung der Waldorfschulbewegung und die sich daraufhin einstellende Kritik aus den Reihen der Kirchen, von Esoterikhassern und Hochschulprofessoren aller Couleur stellten die Internationale Konferenz (Haager Kreis) der Waldorfschulen vor neue Aufgaben. Zeitgleich mit der Zunahme der Kritik von außen stellte sich, so wurde es erlebt, in den 1980er Jahren innerhalb der Bewegung eine Verdünnung ein. Benötigt wurde eine neue Art, an den geistigen Quellen der Pädagogik so zu arbeiten, um sie für Zeitgenossen zugänglich zu machen. Liebendörfer, der neben Bengt Ulin Schweden im Haager Kreis vertrat, sprach diese Thematik an und berichtete aus Schweden, dass dort die Meinung zunehme, man könne Waldorfschulen ja auch ohne Anthroposophie gründen und betreiben. Deshalb war es ihm so wichtig, auf ein engmaschiges Netzwerk zu drängen, sodass Schulen »in der Peripherie« sich in die verdichtenden Möglichkeiten einiger Zentren eingebunden fühlen konnten.

Im April 1992 veranstalteten die Pädagogische Sektion am Goetheanum und der Haager Kreis zusammen die erste Weltlehrertagung, an der zur Freude aller auch die Kollegen aus den ehemals sowjetischen Ländern teilnehmen konnten. Während die Waldorfkollegen im Osten nach dem Ende des Eisernen Vorhangs von befeuernden Erlebnissen berichteten, bereitete die Weltlage zunehmend Sorgen. Heinz Zimmermann formulierte diese im Haager Kreis folgendermaßen: Wie kommt es zur zunehmenden Gewalt, zu Radikalismus und Nationalismus? Was verbindet diese Erscheinungen, was sind die Ursachen? Wird der Radikalismus durch steigende Arbeitslosigkeit, durch die wahrnehmbare Schere zwischen Bevölkerungswillen und Regierungshandeln – besonders auch in den europäischen Verhältnissen – zunehmen? Wie steht es um die Multikulturalität? Wie kann die menschheitlich und keineswegs konfessionell gemeinte Christlichkeit der Waldorfpädagogik verständlich gemacht werden? Stefan Leber diagnostizierte, dass das Wegbrechen gewohnter Strukturen seit der Wende 1989 und die in der Folge entstandene Verunsicherung tief-archaische Momente des Zusammenhalts aufbrechen lassen würden, die nicht vom Ich geführt, sondern durch Instinkte und Emotionen gesteuert sind. Dadurch, so Leber, werde das Verhalten brutalisiert. Und der Geist, der dann einzöge, wenn sich ein Vakuum in der Seele breit macht, hat mit den gemeinschaftsbildenden Kräften des Nationalismus und Ähnlichem zu tun. Liebendörfer fasste diese Gedanken mit den Worten zusammen: »Der Wille braucht durchlichtete Erkenntnis, sonst ist er nur offen für Gewalt.«

Auch das Religiöse bedarf der Übung

Aus solchen Überlegungen folgte die Frage, wie in den Waldorfschulen Moralität, wie in den Waldorfschulen überhaupt das religiöse Element (noch) gepflegt wird. Einige Waldorfschulen standen mit ihrem Religionsunterricht nahezu vor einem Bankrott, bestehende Formen schienen erstarrt und nur noch aus Tradition gepflegt. Die Gottesvorstellung war bei den Eltern verloren gegangen; nach und nach zog diese Haltung und die damit verbundene Ablehnung religiöser Formen auch in die Kollegien ein. Was war zu tun?

Ebenso wie das Denken regelmäßiger Übung bedarf, um nicht zu verkümmern, bemerkte Ulin lapidar, sei das auch für das Religiöse notwendig. Religiöse Vorstellungen und moralische Haltungen müssten geübt werden, sonst verschwänden sie.

Das schwedische Trio prägte nicht nur die eigene Schule und die skandinavische Waldorfbewegung, sondern intensiv auch die internationale Waldorfbewegung, indem es mit seinen kristallklaren Gedanken und seiner hellen moralischen Aufrichtigkeit als Vorbild für die innere Haltung eines Pädagogen wirkte. ‹›

Literatur:

Nana Göbel: Die Waldorfschule und ihre Menschen. Weltweit. Geschichte und Geschichten. 1919 bis 2019 (3 Bände), Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2019