Ein Plädoyer für die Waldorfschule

Jumana Mattukat

Vom Schaf zum Strumpf

Am liebsten beginne ich meine Erklärung mit einer Geschichte aus dem ersten Schuljahr meiner Tochter Emilia, die inzwischen in die sechste Klasse geht. Sie ging damals in die erste Klasse der Rudolf Steiner Schule Wuppertal, da haben die Kinder – bevor sie stricken lernten – zuerst das Schaf besucht, von dem sie die Wolle bekommen sollten. Dann haben sie die geschorene Wolle gesäubert und gesponnen und schließlich noch ihre Stricknadeln aus Holz selbst geschnitzt. Erst dann wurde die erste Masche aufgenommen. In einer Welt, in der Zusammenhänge selbst für uns Erwachsene kaum noch zu durchdringen sind, wünsche ich mir für meine Kinder genau das: dass sie mit all ihren Sinnen den Werdegang des Endproduktes erfahren.

Es mag antiquiert erscheinen, die Kinder vor dem Schreiben mit einem Füller zunächst einmal mit Feder und Tintenfass hantieren zu lassen und dennoch glaube ich daran, dass Kinder einen nachhaltigeren Bezug zu dem Gelernten herstellen, wenn sie ein Stück »Menschheitsgeschichte« hinter dem heutigen Produkt erleben dürfen.

Die Lehrer

Natürlich sind auch Waldorflehrer keine Heiligen und mit manchem Verhalten bin ich nicht einverstanden. Dennoch haben sie bei mir einen »Vertrauensvorschuss«, denn ich gehe davon aus, dass man diesen Beruf nur aus Leidenschaft für die Sache wählt. Die Lehrer haben eine bewusste Entscheidung für diese Art der Pädagogik getroffen und das, obwohl die Klassen größer sind und die Bezahlung schlechter ist. Und wenn ich beim Elternabend vor der Einschulung meines zweiten Kindes höre, dass es dem Lehrer vor allem darum gehe, dass die Kinder in der Schulzeit etwas über sich selbst erfahren und dabei lernen, wie sie am Besten lernen, dann bestätigt mich das in meiner Entscheidung und berührt mein Herz.

Die besonderen Fächer

Die waldorftypischen Fächer wie Handarbeit, Eurythmie und Gartenbau sind für mich die Fächer der Zukunft. In meiner Arbeit als Coach und Seminarleiterin erobere ich mit meinen erwachsenen Klienten wieder den Zugang zu unserem Innenraum. Mir ist aufgefallen, wie getrennt wir Menschen zum Teil von unserem Wesen und von der Natur sind. Nicht ohne Grund gewinnen Yoga, Meditation, Naturarbeit und künstlerisch-handwerkliche Angebote in der Erwachsenenwelt immer mehr an Bedeutung. Dieser Weg in die Mitte und zum Wesentlichen steht in der Waldorfschule quasi auf dem Lehrplan.

Wie gut haben es die Waldorfschüler, wenn sie hautnah erleben dürfen, wie tatsächlich etwas aus dem Beet wächst, das sie angelegt haben, wenn tatsächlich ein Strumpf aus dem Gestrickten wird und wenn sie lernen, ihren Körper in der Eurythmie zu erfahren!

Unsere Großeltern werden an dieser Stelle wahrscheinlich den Kopf schütteln: Handarbeit, gärtnern? Das sind doch wohl Selbstverständlichkeiten. Nein, 2015 gehört das nicht zum selbstverständlichen Alltag eines Kindes.

Die Zeugnisse

Die besonderen Leistungen der Lehrer zeigen sich auch in der Qualität der Zeugnisse. Nicht nur der Umfang, der zeigt, wie eingehend sich allen vorweg die Klassenlehrer mit den Kindern befassen, sondern auch der liebevolle Blick, mit dem die Kinder betrachtet werden. Wie viel schöner ist es für mich als Mutter, ausführlich darüber zu lesen, wie der Klassenlehrer das Kind im Austausch mit der Klasse wahrnimmt oder wie es in den einzelnen Epochen mit den gestellten Aufgaben umging, als es mit einem »sehr gut« bis »ungenügend« auf eine Note reduziert zu sehen.

Zeugnissprüche

Zeitgleich mit dem Zeugnis am Jahresende erhält der Waldorfschüler einen sogenannten Zeugnisspruch – einen Spruch, ein kleines Gedicht, manchmal vom Lehrer selbst verfasst. Ich würde es als eine Art poetische Botschaft an das Kind bezeichnen. Für mich ist diese Tradition eines der Highlights der Waldorfpädagogik, weil darin so viel Wertschätzung enthalten ist. »Ich sage Dir nicht, wie Du bist«, sondern »Wenn ich dieses Gedicht lese, dann finde ich, dass es zu Dir passt« oder aber »Diese Zeilen habe ich für Dich geschrieben«. Das ist für mich ein entscheidender Unterschied. Ich verstehe den Spruch wie eine Art Bekräftigung der Wesenszüge, mit denen der Lehrer gut zurecht kommt und gleichzeitig wie eine Ermutigung des Kindes, vielleicht etwas von sich loszulassen, von dem der Lehrer glaubt, es sei dem Kind nicht mehr förderlich.

Patenschaften

Schüler aus der achten oder neunten Klasse dürfen sich einen der zukünftigen Schüler als Patenkind aussuchen, das sie fortan morgens in die Klasse und in die Pause begleiten und auf das sie auch ansonsten in der ersten Zeit nach dem Schulbeginn achtgeben.

Auch diese Tradition gefällt mir sehr gut, denn bestimmt fühlen sich die Kleinen so sehr viel mehr aufgenommen in die Schulgemeinschaft und ganz gewiss erinnern sich die Jugendlichen daran, wie hilfreich es für sie selbst war, als sie ganz am Anfang ihrer Schullaufbahn standen.

Immer wieder staune ich darüber, wie unfassbar viele Schüler aus allen Klassen meine Kinder beim Namen kennen. Klassenübergreifend wird in der Pause gespielt und sechs- bis 16-Jährige dürfen und müssen miteinander auskommen. Von wegen, die Waldorfschule bereitet nicht auf das echte Leben vor!

Das bin ich

Der Einschulungstag ist der Moment, an dem Waldorfschüler zum ersten Mal die Bühne betreten. Von da an werden sie dies noch viele Male tun – vor allem während der regelmäßigen Aufführungen, den sogenannten Monats­feiern. Das Gefühl zu kennen, sich vor einem Publikum zu zeigen mit dem, was man kann und mit dem, was man ist, ist für mich eines der wichtigsten Dinge in der heutigen Berufswelt.

Darum geht es beim Vorstellungsgespräch, beim Zeigen einer eigenen Präsentation oder im Kundengespräch. Als Präsentationstrainerin weiß ich: Unter den Waldorfschülern werde ich wohl eher wenige Klienten finden.

Biodynamischer Landbau

Seit der Geburt unserer Kinder haben sich unsere Einkäufe immer mehr verwandelt und sind inzwischen bei fast 100 Prozent Bio angekommen. Dass Rudolf Steiner der Begründer des Biodynamischen Landbaus ist, stellt für mich deshalb ein weiteres Argument für die Waldorfschule dar.

Die Gemeinschaft

An jedem Samstag, an dem es heißt »Auf zum Werktag in die Schule« habe ich erst mal keine große Lust auf Unkraut jäten oder Wände streichen. Wenn ich dann aber erst einmal in der Schule bin und sehe, wie an allen Ecken und Enden gewerkelt wird, dann ändert sich das Gefühl schlagartig und ich freue mich, mit anpacken zu können. Innerhalb kürzester Zeit wird so viel geschafft, dass ich mich frage, warum wir nicht eigentlich auch unsere eigenen Häuser und Gärten gemeinsam in Ordnung bringen.

Auch wenn wir wieder ein Fest wie den Adventsbasar auf die Beine gestellt haben und damit einen wichtigen finanziellen Beitrag für die Schule leisten, bin ich glücklich darüber, dass meine Kinder spüren, wie ihre Eltern sich einbringen und engagieren für ihre Schule.

Es sind diese Tage, an denen ich spüre, dass meine Kinder nicht einfach nur eine Schule besuchen, sondern dass sie in der Waldorfschule in einer Gemeinschaft aus Eltern, Lehrern und Schülern heranwachsen.

Schließen möchte ich meine Antwort auf die Frage »Warum Waldorfschule?« mit einer Anekdote: Meine Tochter war vor einigen Monaten im Gespräch mit zwei Mädchen im Alter von 16 Jahren, die ein Gymnasium besuchen. Als sie hörten, dass es keine Noten gibt, fragten sie: »Warum machst Du denn überhaupt was für die Schule, wenn es keine Noten gibt?«

Meine Tochter schaute sie irritiert an und sagte aus vollem Herzen: »Weil ich was lernen will«.

Zur Autorin: Jumana Mattukat arbeitet als Bewusstseins-Coach in Bremen und ist Autorin des Buches Mami, ist das vegan?