Standpunkt

Ein politischer unpolitischer Mensch

Nele Auschra

Ich möchte geradeheraus denkend handeln, ich möchte meinem Gegenüber offen begegnen und erhoffe mir dies stets (das mag wohl naiv sein) auch von den Menschen, mit denen ich zu tun habe. Das geht nun nicht mehr. Und das ist auch gut so.

Ich habe als Waldorfschülerin gelernt, urteilsfähig zu sein und erarbeite mir dies nun bereitwillig auch auf dem Feld der Politik, zuletzt vermehrt in der Gesundheitspolitik und aktuell in der Außenpolitik. Im Oberstufenforum zum Krieg in der Ukraine (die erziehungskunst hat ausführlich berichtet) ging es auch um den Krieg der Informationen, von dem man sich nicht davon abhalten lassen dürfe, ein Urteil zu bilden. Diese Aufgabe, die die Zeitenlage jedem stellt, habe ich also gerne angenommen.

Dabei schätze ich Gesprächspartner:innen, die ebenso suchend wie ich um Erkenntnis ringen. Die ihre Erfahrung mit anderen teilen und dabei hinterfragen. Und es stößt mich ab, wenn selbsterklärte Wissende ihre Wahrheit als die Wahrheit verkünden, verbunden mit unverhohlener Herablassung gegenüber den anderen, den Nichtwissenden, die dümmlich-benebelt den »Mainstream«-Medien folgen. Leider begegnet man diesem Typus auch in den Reihen der Anthroposph:innen, und dann in vollendeter Ausprägung: Sie vermitteln gerne, dass sie denken, alle anderen jedoch nicht. Sie haben Zugriff auf die Wahrheit, auf die richtigen Fakten, die sie unfehlbar interpretieren. Sie wissen, wer bei Corona die Fäden in der Hand hält und wer mit welchem Ziel weltumfassende Intrigen spinnt.

Sie kennen die »russische Seele« und verstehen Putin. Und: steht nicht alles schon bei Steiner geschrieben?! Wirklich erstaunlich.

Ich will doch hoffen, dass ich in den nächsten Jahren, als zunehmend politischer Mensch, weiterhin eine Suchende und Ringende bleibe. Und dies auch meinen Mitmenschen zugestehe. Ich werde mir weiterhin Texte von angeblich Wissenden durchlesen, Aspekte davon bewegen, um mein eigenes Bild zu erweitern, vielleicht sogar zu verändern – wahrscheinlich aber zu festigen. Ich will sie respektieren und ihnen nicht das vorwerfen, was sie denjenigen vorwerfen, zu denen sie mich eventuell zählen. Dabei kann ich mich genau wie sie auf Steiners profunde Anregungen zur Erkenntnisarbeit, zur Arbeit an sich selbst beziehen; ohne aus der Gesamtausgabe seiner Werke, also GA hier und GA dort zu zitieren, sondern prüfend und abgleichend mit dem, was ich denkend erarbeiten oder abstrakt nachvollziehen kann, was ich zur weiteren Prüfung erwägen möchte und nicht zuletzt: was ich fühle.

Vielleicht bleibe ich doch, trotz allem Bemühen, ein sehr politischer unpolitischer Mensch?

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.