Eine Entscheidung soll den Menschen nicht gefallen, sondern dienen«

Christine Krauch, Brigitte Pietschmann

Christine Krauch | Du bist nun seit 13 Jahren an Schulen beratend und begleitend tätig. Was waren Deine Motive, das Lehrersein mit der Tätigkeit als Entwicklungsbegleiterin zu verbinden?

Brigitte Pietschmann | Als ich damals mit der Ausbildung zur Entwicklungsbegleiterin begann, hatte ich noch die 7. und dann die 8. Klasse mit 46 Schülern als Klassenlehrerin zu betreuen. Ich hatte den Anspruch, dieses große Schiff mit anderen Menschen zusammen zu steuern. Ich wollte meine Erfahrungen auf einen professionellen Boden stellen und die Zusammenarbeit von Erwachsenen an einer Waldorfschule wirklich und wirksam lernen. Denn natürlich hatte es während meiner Klassenführung Konflikte gegeben, war Manches nicht effizient gelaufen …

CK | Was waren Deine konkreten Erfahrungen?

BP | Da ich zum Gründungskollegium der Freien Waldorfschule Schwäbisch Hall gehöre, hatte ich bereits viel Gelegenheit gehabt, im Verwaltungsrat, im Elternrat, im Vorstand Verantwortung für die Führung unserer Einrichtung zu übernehmen und zu erfahren, wie das mehr oder weniger durch Versuch und Irrtum gelang. Bei der Ausbildung zur Entwicklungsbegleiterin hatte ich nun die Chance, qualifiziert auf meine Erfahrungen zu blicken, Instrumente für die Organisations- und Personalentwicklung und die Konfliktbegleitung kennen zu lernen und neue Wege für eine zukünftige Arbeit zu finden.

Michael Harslem, der unsere dreijährige berufsbegleitende Ausbildung koordiniert hat, brachte schon bald ein Zitat von Rudolf Steiner mit, das mich bis heute in meiner Arbeit leitet: »Nicht darauf kommt es an, dass ich etwas anderes meine als der andere, sondern darauf, dass der andere das Richtige aus Eigenem finden wird, wenn ich etwas dazu beitrage.« Mit diesem Satz bin ich auf soziale Entdeckungsreise gegangen, bei meinen jugendlichen Schülern, aber auch in Fortbildungsveranstaltungen für Lehrer, die ich schon 1996 anzubieten begann. Ein großer Reichtum an Ideen und neuen Wegen kam mir entgegen. Die Menschen, mit denen ich arbeitete, schienen nur darauf gewartet zu haben, dass sie jemand einlädt, selbst durch kreative Suchbewegungen zu finden, was sie für ihre Situation brauchen.

CK | Wie hast Du das konkret gemacht?

BP | Meine Aufgabe war es, durch Fragen, Übungen, interaktive Moderation den Raum dafür zu schaffen, dass sie selbst tätig sein konnten. Ich gebe zu, dass das für manche Lehrer und Schüler unbequem war und ist. Die Chemie unter den Menschen stimmt nicht immer und manchmal passe ich als Entwicklungsbegleiterin nicht zu den Bedürfnissen der Klienten. Dann ist es gut, wenn wir das einander sagen oder erst gar nicht anfangen, miteinander zu arbeiten.

CK | Wo erlebst Du in Deiner Arbeit an der eigenen Schule, aber auch in der Begleitung anderer Schulen und einzelner Kollegen einen Mangel an Führung?

BP | Führung beginnt bei der Selbstführung! Ich muss mich selbst gut kennen und realistisch einschätzen, wo meine Schwächen und meine Stärken liegen. Dann kann ich sehen, ob eine Aufgabe, die an mich herangetragen wird, zu mir passt. Wie oft kommt es vor, dass bei der Aufgabenverteilung nicht darauf geachtet wird, ob die Anforderungen und die Fähigkeiten eines Menschen zusammenpassen! Alle sind froh, dass jemand die Sache übernimmt, obwohl viele ahnen, dass er oder sie die Aufgabe nicht bearbeiten kann, weil er vielleicht bereits über sein Deputat hinaus belastet ist oder einfach nicht die erforderliche Kompetenz hat.

CK | Welche Voraussetzungen sind nötig, dass das zusammenpasst?

BP | Mancher Kollege fühlt sich gut, weil er gewählt oder gefragt wird. Diesen unterschwelligen Egoismus und Eigen­nutz gilt es in ein Handeln aus Mitgefühl mir selbst und anderen gegenüber umzuwandeln. Um mit ihnen wirksam zusammenarbeiten zu können, muss ich meine eigenen Absichten zurückstellen und mich anderen öffnen.

Menschen, die Führung übernehmen, brauchen Kenntnisse darüber, welche Formen in Konferenzen und Gesprächen helfen können, dass ein offener Raum entsteht, in dem nach übereinstimmenden Wünschen und gemeinsamen Zielen zu einer Frage gesucht wird. Ein Raum, in dem Wege für die Zukunft gefunden werden, bis hin zu konkreten Verabredungen: Wer macht was, mit wem, wie, in welcher Zeit.

CK | Warum glauben so viele Menschen an ihre Naturbegabung und haben es nicht nötig zu lernen? Ist ihnen klar, dass es nicht darum geht, Menschen, sondern Prozesse zu führen?

BP | Natürlich müssen sich Führungskräfte fortbilden – in Gesprächsführung, in Konfliktbegleitung, in der Gestaltung von Veränderung und anderen Prozessen der Schulleitung.

Es steht zu viel auf dem Spiel, wenn sie es nicht tun: Kostbare Arbeits- und Lebenszeit in Konferenzen, das Wohlergehen von Kollegen, Eltern, Schülern und schließlich eine Menge Geld, die verschwendet wird in Form von Abfindungen oder durch die Schulen finanzierte Lehrerausbildungen, die in den Sand gesetzt werden, weil die neuen Kollegen nicht gut in die Schule eingeführt werden. Noch schlimmer scheint mir, dass an Schulen vorhandene Initiativen nicht aufgespürt, akzeptiert, abgeschliffen oder gefördert werden. Die Kraft dieser Initiativen schlägt ins Gegenteil um und schadet der Schule wie der Schulbewegung.

CK | Was kann eine Schule tun, um dies zu verhindern?

BP | Wer in einer Führungsverantwortung steht und keine Angst hat, sondern seine Grenzen erkennt, kann sich Hilfe holen. Durch Unterstützung und Fortbildung lassen sich Grenzen verschieben. Das bedeutet Lernen und seinen Horizont erweitern. Hier liegt auch der persönliche Gewinn für die Menschen, die sich dieser Aufgabe stellen. Die Prozesse an unseren Schulen brauchen oft unendlich viel Zeit. Nicht selten werden die Themen oder Probleme verschleppt, bis es zu spät ist und sich ein handfester Konflikt entwickelt hat. Deshalb sollten Mitarbeiter mit Führungsverantwortung Zeit für ihre Führungsaufgaben haben. Oft erledigen sie diese Aufgaben neben einem vollen Unterrichtsdeputat und nur allzu oft geraten diese zur Nebensache. Führung braucht Qualität und Qualität kostet Geld. Dem sollten wir uns an den Waldorfschulen stellen.

CK | Wie geht man mit diesem Problem um, ohne den anderen zu verletzen? Gerade Kollegen mit wenig Selbstwahrnehmung haben auch kein Fortbildungsbedürfnis. Das verunsichert sie eher.

BP | In dem Augenblick, in dem eine Aufgabe erteilt wird, sollte die Frage selbstverständlich werden: Trauen Sie dem Kollegen diese Aufgabe zu? Zugegeben – es erfordert Mut, hier seinen Zweifel zu äußern. Ist es aber nicht menschlicher, hier eine kleine Verletzung zu verursachen, als Wochen später nach vielen Stunden Einsatz des willigen Kollegen und vielleicht viel zerschlagenem Porzellan festzustellen: »Ich hatte schon immer Bedenken, ob das gut geht!« Für mich ist das eine Frage der gegenseitigen Wertschätzung. Schulen, die mit Prozessverantwortlichen sorgfältig umgehen, erreichen mit der Zeit eine Kultur der Offenheit, und es wird möglich, dass bei der Aufgabenverteilung abgewogen wird, ob eine Person wirklich für diese Sache geeignet ist oder die entsprechenden Fähigkeiten und Fertigkeiten in überschaubarer Zeit lernen kann. Wenn ehrliche Rückblicke nach einer Konferenz oder nach einem Gespräch selbstverständlich sind, lassen sich Fehlbesetzungen schneller korrigieren.

CK | Was ist an Bewusstseins- und Lernprozessen in einer Schule erforderlich, um mit der Frage der Führung zeitgemäß umzugehen?

BP | Wer Führungsverantwortung trägt, muss Entscheidungen treffen. Die Entscheidungen gefallen nicht jedem. Das ist auch gar nicht nötig. Eine Entscheidung soll den Menschen nicht gefallen, sondern ihnen dienen. Vor dem Entscheiden liegt das Beraten. Es erfordert ein offenes Ohr für alle, die die anstehende Entscheidung betrifft – aus Interesse an den Menschen, die zur Schulgemeinschaft gehören. Entscheidungen, die man nach gründlicher und gut kommunizierter Beratung fällt, werden in der Regel auch akzeptiert.

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