Eine Geschichte zum Glück

Alanis Fingerhut

Im Klassenzimmer sah ich als erste Vanessa, mal wieder der Mittelpunkt, umringt von ihren Fans. Still und leise ging ich an meinen Platz, streifte meine Jacke ab, setzte mich auf meinen Platz, holte ein Buch heraus und begann zu lesen. Ich konnte mich nicht konzentrieren, immer wieder ging mir die Frage im Kopf herum: »Warum ist sie so beliebt? Was ist an ihr denn so toll?« Nur weil jemand hübsch ist, heißt das noch lange nicht, dass man einen guten Charakter hat ... einer Freundin muss man vertrauen können. Das geht bei Vanessa doch gar nicht, wenn sie das, was sie hört, an der nächsten Straßenecke gleich weitererzählt. – »Ist es Glück, so zu sein wie sie?« Oder wie mein Opa immer sagt: »Kind, du musst in der Schule gut sein, damit du deinen Abschluss schaffst, um dann einen Beruf zu bekommen, mit dem du Geld verdienst und es zu etwas bringen kannst! Und wenn du das geschafft hast, dann kannst du glücklich sein. Denk dran, Geld regiert die Welt.« Das alles hört sich nicht nach Glück an ... es muss etwas anderes sein.

Ich klappte das Buch zu, der Unterricht hatte bereits begonnen. Die Lehrerin begutachtete mich gerade mit einem »Ich hoffe, du passt auf und das hier ist ein Sehr-wichtig-Blick«. Sie sagte: »Erzähl uns jetzt noch einmal, worüber es in dem Bericht ging und deine Meinung dazu.« Ich konnte nur »Ähm, ja« stottern. »Wieder nicht aufgepasst, du bleibst nach der Stunde hier!« Pausenklingel.

Auf dem Schulhof schaute mich Vanessa mit gespieltem Mitleidsblick an »Oh, jetzt hast du ja fast gar keine Pause mehr.« Alle lachten. Ich drehte mich um, lief davon, stieß mit einem Jungen aus der Oberstufe zusammen, der grunzte »Pass doch auf!«

Alle lachten wieder, Vanessa mittendrin.

War es Glück, nie alleine zu sein? Ich setzte mich auf die Schulhofmauer, packte mein Pausenbrot aus, beobachtete die jüngeren Kinder. »Ist es Glück, klein und sorgenlos zu sein? Wie auf einem Karussell, alles um einen herum zu vergessen?« Pausenklingel.

Nach der Schule radelte ich in die Altstadt, um noch einen Einkauf für meine Mutter zu erledigen. Auf dem Weg fuhr ich an einem Straßenkünstler vorbei. Ist es Glück, ein Talent zu haben? Was ist mein Talent? An der Kasse sah ich eine alte Frau mit Gehstock, die sich abmühte, die Sachen, die ihr runtergefallen waren, wieder aufzuheben. Die Leute gingen an ihr vorbei. Wie kann es sein, dass Menschen weiterlaufen, ohne zu helfen? Ich half der Alten und sie bedankte sich. Ist es Glück, anderen helfen zu können? Der restliche Tag verging ereignislos. Um neun Uhr war ich schon im Bett. Ich war müde, konnte aber nicht schlafen. Meine Mutter machte Yoga und meditierte, jetzt wünschte ich mir, ich könnte das auch. Jetzt zum Beispiel wäre es sehr nützlich ... Ich dachte über den vergangenen Tag nach. Wieder die Frage: »Was ist Glück? Hat jeder Mensch Glück? Oder nur manche? Und was wäre, wenn ich gar kein Glück hätte? Warum haben nur all die anderen Glück, nur nicht ich? Ist das Glück vorherbestimmt, ist es begrenzt? Habe ich kein Glück verdient?«

Der nächste Tag. Es war früh. Ich ging joggen. Im Wald zwitscherten die Vögel und die Sonne ging auf. Der Tau lag noch auf den Grashalmen und hin und wieder sah ich zwischen den Bäumen und Sträuchern ein Spinnennetz. Ich war schwerelos. Es kam gerade »Paradise« von Coldplay auf meinem mp3-player. Die Stimmung war perfekt. Bin ich glücklich?

Zu Hause duschte ich schnell, zog mir etwas Frisches an, kämmte mir die Haare, schmierte mir noch ein Marmeladenbrot und sprang ins Auto. Meine Mutter total im Stress, wie jeden Morgen. »Was machst du denn immer solange? Du weißt doch genau, wie eilig ich es habe.« Das sagt sie jeden Tag … – und ich schaltete ab. Ist das Glück?

Es klopfte an unserer Klassenzimmertür und die Direktorin kam herein: »Guten Morgen, alle zusammen.« Die Klasse grüßte zurück. »Das ist Bethany, eure neue Schülerin. Eure Lehrerin weiß Bescheid.« So schnell sie gekommen war, verschwand sie wieder. »Bethany, du kannst Dich hinten in die letzte Reihe setzen. Es wäre schön, wenn du uns zuvor noch ein bisschen etwas über dich erzählen würdest.« Bethany trat einen Schritt nach rechts, um für die ganze Klasse sichtbar zu sein. »Hallo, ich bin Bethany. Vor zwei Wochen bin ich mit meinen Eltern hierher gezogen. Vorher haben wir in Berlin gewohnt.« Ihr kastanienfarbenes Haar fiel ihr über die Schultern und ging ihr fast bis zur Hüfte. Sie setzte sich neben mich. Sie sagte: »Du bist also Kathe.« Sie lächelte freundlich. »Ja«, erwiderte ich leise.

Nach Schulschluss trug ich ein paar Bücher, die ich mir ausgeliehen hatte. Der Stapel fiel mir runter, ich bückte mich. Es bückte sich jemand mit. Als ich gegen das Sonnenlicht aufschaute, sah ich Bethany: … wie ein Engel sah sie aus. Sie ging mit mir ein Stück. Sie fragte mich: »Warum bist du so traurig?« – »Traurig, wie kommst du denn darauf?«, entgegnete ich. »Komm schon, das merkt man doch, wenn man dich anschaut.« – »Wer schaut mich denn an?«, entgegnete ich. Wir blieben stehen und ich erzählte ihr alles. »Oh, das tut mir leid«, sagte sie und nahm mich in die Arme. Ich war überrascht, da mich von der Schule noch nie jemand umarmt hatte. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich verstand.

Ich kam nach Hause und fühlte mich erstaunlich gut.

Am nächsten Tag tauschten wir unsere Nummern aus, um uns zu verabreden. Wir trafen uns in den nächsten beiden Wochen jeden Tag. Wir wurden gute Freundinen. Zwischen uns wuchs ein Band, das wir beide spürten. Ich musste mich nicht mehr verstecken und begann wieder zu lachen. Ich fühlte, wie mein Selbstbewusstsein wuchs.

Sogar Vanessa hörte auf, mich zu ärgern. Vielleicht war ich nicht so wie die Anderen, aber um ehrlich zu sein, ich wollte gar nicht so sein wie alle Anderen. Es war okay, ich war schon immer anders. Bethany berichtete, dass sie in einer Woche ihren 17. Geburtstag habe und an diesem Samstag gerne nach Berlin fahren würde. Ihre Eltern hätten aber keine Zeit, da sie geschäftlich unterwegs sein würden, … und ob ich denn vielleicht nicht mitfahren wolle. Ich war überglücklich und bejahte die Einladung.

Als ich an ihrem Geburtstag aufwachte, beschriftete ich eine Karte: »Das ist ein Gutschein für Freundschaft, einlösbar ab jetzt, gültig für immer!« und packte ein Geschenk ein. Ich freute mich schon total auf diesen Tag. Ein Taxi hielt vor unserem Haus. Meine Eltern gratulierten Bethany. Ich umarmte sie und wünschte ihr »Alles Gute zum Geburtstag!« Wir fuhren los, Bethany schaute sich die Geschenke an und freute sich. Wir plauderten. Unsere Stimmung stieg, wir und die Sonne lachten. Bethany umarmte mich und sagte: »Beste Freunde, ich liebe Dich«. Dann wurde mir schwarz vor den Augen.

Ich hörte aufgeregte Stimmen. »Wann wird sie wieder zu sich kommen?« Ich glaube, es war die Stimme meiner Mutter. Darauf antwortete eine unbekannte Stimme »Ich denke bald, es dauert seine Zeit. Ein Glück, dass sie überlebt hat! Es war ein schwerer Unfall.«

Ich konnte mich an nichts mehr erinnern. Ich wollte meine Augen öffnen und sprechen, aber es ging nicht.

Jemand weinte, eine Männerstimme versuchte zu trösten. Wieder die Frauenstimme: »Bethany war doch ihre beste Freundin.« Die Erinnerung kam langsam zurück. Das Taxi, die Ampel und der Zusammenstoß! Wo ist Bethany! Was sagten sie, Bethany WAR meine beste Freundin? Nein, sie IST meine beste Freundin!

Endlich konnte ich wieder sprechen: »Bethany! Was ist mit ihr?« Ich öffnete die Augen. Es war seltsam, meine Mama weinen

zu sehen. »Kommt schon, was ist denn? Mama?! Papa?!« – »Bethany hat den Unfall nicht überlebt. Sie hat sich schützend vor Dich geworfen und Dir das Leben gerettet. Du lagst in ihren Armen.«

Stille. Ich wusste nicht genau, was ich dachte, es war zu viel. Mein Blickfeld vertrübte sich. Nein, das konnte nicht sein. Ich schlief wieder ein.

Ich bekam regelmäßig Besuch, auch von Bethanys Eltern. Ihre Mutter sagte zu mir: »Ich weiß, Bethany hätte bestimmt nicht gewollt, dass du so traurig bist.« Als ich aus dem Krankenhaus kam, ging ich mit meinen Eltern auf die Beerdigung von Bethany. Ich stand auf einer Wiese und schaute in den Himmel: »Du fehlst mir so! Tausend Welten weit entfernt und doch so nah. Ich verspreche dir, irgendwann werden wir uns wieder sehen! Danke.«

Wochen vergingen, ich dachte jeden Tag an Bethany. Ich fragte mich wieder: »Was ist Glück?« Jeder sucht sein eigenes Glück. Es hängt davon ab, wie es jeder für sich selbst definiert. Manche haben es täglich vor sich, aber entdecken es nicht oder es ist ihnen zu nah. Andere suchen es unablässig und finden es nie. Ich habe meine Antwort gefunden: Mein Glück heißt Bethany. Sie hat mir gezeigt, was Freundschaft ist. Sie hat mir mein Leben gerettet. Sie hat mein Leben verändert.

Zur Autorin: Alanis Fingerhut ist Schülerin der Waldorfschule Würzburg und war im Mai 2015, als sie den Text im Rahmen einer Projektarbeit verfasste, 14 Jahre alt.