Eine Handvoll Erde

Yaroslava Black

Erde ist grau, braun, schwarz, auch rötlich oder lehmig-gelb. Gießt man Wasser hinein, wird sie zu Schlamm und Schmutz, lässt man sie austrocknen, wird sie zu Staub. Sie kann manchmal auch trostlos erscheinen. Weit nicht so interessant wie eine blühende Wiese mitten im Sommer oder ein mit grünem Moos bewachsener Wald. Aber vielleicht zieht die Erde unseren Blick an, auch wenn wir keine Bauern sind, weil wir ahnen, dass in ihr viele Möglichkeiten schlummern. Wir spüren in ihr die Verwandtschaft mit uns selbst. In ihr ruht die Kraft des Wachstums, eine starke Potenz der Veränderung. Ein Same braucht oft nur die Erde zu berühren und schon regt sich in ihm eine große Lust, Wurzel zu schlagen. Ein anderer Same muss lange warten, bis die äußeren Bedingungen so sind, dass er aus sich herauskommt und ein neues, oft ganz unerwartetes Leben beginnt.

Hinter unserem Garten war der Garten des Nachbars. Er war zugewachsen und wucherte vor sich hin. Nur im Herbst lichtete sich plötzlich der Weg zum alten Brunnen. Wir hatten es viel näher zu diesem Brunnen als die Nachbarn selbst. Auch hatten sie vor ihrem Haus, das am anderen Ende ihres Grundstücks lag, einen neuen Brunnen gebaut. Das Wasser schmeckte zwar nicht so gut wie das aus dem alten, aber dafür mussten sie nicht so weit laufen. Also bedienten wir uns an dem guten Quellwasser und der Weg dahin war für uns Kinder immer ein Abenteuer. Wasserholen war lediglich ein Vorwand, um in dem verwachsenen Grundstück des Nachbarn verschwinden zu können. Denn so schnell konnte uns dort keiner finden. Hinter dem alten Brunnen schimmerte bei gutem Licht zwischen dem vielen Grün das alte Haus, in dem niemand mehr lebte. Nachdem die alte Großmutter des Nachbarn gestorben war, kippte ihre Lehmhütte etwas nach links und versank fast bis zu den Fenstern im Boden. Unter dem Dach lebten längst Fledermäuse und Eulen. Wespen bauten sich dort ihre Nester, die Katzen aus der Nachbarschaft brachten ihre Kleinen zu Welt und versteckten sie dort geschickt vor den Menschen. So sicherten sie ihren Familiennachwuchs.

Für uns war das Haus mit dem verwachsenen Garten ein Paradies mit all den Gefahren, Versuchungen und Mutproben, die in einem guten Paradies nicht fehlen dürfen. Und da es niemanden kümmerte und wir in unserer Unschuld nicht an die bösen Schlangen dachten, gab es auch keinen Zaun dazwischen.

Eines Tages hörte ich meinen Großvater sprechen: Es sei ein Jammer, dass das gute Stück Erde so verkümmere. Er wollte wenigstens mit der Sense hin und den Weg zum Brunnen frei machen. Die Erde in unserer Gegend ist schwarz und fett, wie eine gestriegelte Kuh, die in der Sonne glänzt. Während des Zweiten Weltkriegs, so erzählte man in unserer Familie, mussten die Zwangsarbeiter die Erde monatelang auf die Güterzüge schaufeln. Die Züge fuhren nach Deutschland, um dort in den Stadtgärten und alten Friedhöfen die Böden zu verbessern. Später musste ich immer wieder daran denken: Meine schwarze Erde wanderte nach Deutschland, lange bevor ich dahin kam. So gesehen, gehe ich vielleicht gar nicht auf fremdem Boden, sondern auf meinem eigenen herum? Fast so, wie auf dem Grundstück des Nachbarn.

Wir gingen hin, ich und mein Großvater, mit Sense und kleiner Sichel. Wir kämpften uns durch die Brennnesseln und Brombeeren hindurch, bis wir endlich zum verlassenen Haus kamen. »Es sieht so aus«, meinte mein Großvater, »weil niemand dieses Stück Erde liebt. Die Erde will geliebt werden.« Als die alte Frau Jadwiga in ihrem kleinen, blauangemalten Lehmhaus unterm Strohdach lebte, wuchsen vor ihren Fenstern Stockrosen, Phloxe, Chrysanthemen, Enzian, Rittersporn und Lupinen. Ich wollte natürlich wissen: Wo sind alle Blumen hin? Kommen sie wieder, wenn wir ihr Territorium gegen die Brenneseln verteidigen? Möglich wäre es. Aber die Erde muss wieder zum Leben erweckt werden. Man muss sich um sie kümmern. Das taten wir, weil uns danach war.

Dann saßen wir eine Weile im Gras und tranken kaltes Wasser aus dem Brunnen. Hinter dem Zaun graste unsere Kuh. Sie drehte immer wieder den Kopf zum Großvater und wartete geduldig darauf, gemolken zu werden. Großvater zog seinen Schleifstein aus dem Gummistiefel und reinigte die Sense zuerst mit einem Bündel Gras, bevor er sie schärfte. Der rhythmische Klang und das laute Rupfen der Kuh am frischen Gras breiteten Frieden über dieses neugewonnene Stück Landschaft. Dann zog der Großvater aus seiner Tasche eine Handvoll Samen und gab sie mir. Ich säte sie unter den Fenstern und um den Brunnen. Der alte gemauerte Brunnen verdiente bessere Gesellschaft als die Brennnessel. Die Großmutter wunderte sich immer über solche Merkwürdigkeiten des Großvaters. Es gab doch genug Arbeit im eigenen Garten. »Ja, schon. Aber die Hässlichkeit ist ansteckend. Genauso wie die Schönheit«, meinte mein Großvater. Im nächsten Jahr schon erlebten wir die große Verwandlung. Überall zeigten sich Blumen. Und es schien mir, dass sich sogar Holunder und Haselnuss in diesem Jahr von ihren besten Seiten zeigten und nicht mehr so wild um sich grabschten. Auch die Wiese war voll mit Frühlingsblumen, die offensichtlich nur darauf gewartet hatten, sich wieder zu zeigen, und wir beide saßen vor dem Brunnen und schauten zufrieden um uns herum. Die Sonne versteckte sich hinter der dicken Regenwolke. Die Luft war noch kühl. Es ist noch nicht die Zeit zum Träumen, wie im Sommer. Man kann im Frühling aber sehr scharf sehen. Das schwarze Stück Erde vor unserem Haus glänzte in der Ferne. Es war schon vorbereitet für Kartoffeln, Möhren, Kohl, Rote Beete, Zwiebeln, aber auch für die Erdbeeren und Knoblauch, den wir wegen der Schnecken immer zwischen die Erdbeeren setzten.

Nebeldunst verschluckte unsere Kuh und unter dem Nebel, ganz nah am Boden, stieg das Licht aus der Erde hervor.

Eines Tages setzte der Nachbar einen Zaun mit einem Tor zwischen unsere Grundstücke, ein wortloses Zeichen, dass unsere Mission in diesem Niemandsland zu Ende ist. Wir Kinder fanden das ungerecht: »Aber wir haben so viel gearbeitet …« – »Ja, und das ist auch nicht verschwunden. Es bleibt nur hinter dem Zaun, wie unser Land«, meinte der Großvater ruhig. Das mit dem Land verstanden wir erst viel später, als wir lernten, dass Galizien mal zu dem einen, mal zu dem anderen Land gehörte, je nachdem welcher Nachbar in welcher Zeit auf welche Idee kam. Deutlich wurde uns dies auch, als uns später die Reiselust packte, die Gärten und Menschen hinter der Grenze, in anderen Ländern zu sehen, aber es nicht ging. Ein Land gestattet dem anderen keinen spontanen Besuch aus Lust und Laune. Erst nach langem Prüfen und Warten, ob die Absichten – soweit man die Absichten prüfen kann – einem ernst und wichtig genug erscheinen, – dann. Vielleicht.

Vielleicht liegt der Sinn der Grenzen zwischen den Ländern und Gärten in einem großen Irrtum, der bereits in den Schulen angelegt wird. Wir mussten in der Schule bestimmte Tatsachen lernen. Oft auch auswendig: Die Erde ist … Die Wolke ist … Die Blume ist … Alles war bereits ein Ist und war nur so und nicht anders zu verstehen. Das Ist war niemals im Werden. Die Gärten dagegen immer. Darum sind sie auch bessere Lehrmeister.

Die Gärten sind immer im Vergehen und Aufblühen, im Absterben und Samen bilden. Sie sind deswegen so schön, weil sie wirklich sind. Und ihre Wirklichkeit ist selbst Dauer und Wandel. So eine Wirklichkeit ist ein Bild. Es lebt in den Farbflächen voller Dauer und Wandel. Es will nichts, hat keine Absichten. Es ist anwesend und wächst im Anschauen.

Jeder Garten ist ein Work in Progress und nie fertig, wie unser Leben auch nie fertig ist. Er verändert sich. Immer. Ein Garten kann besser werden oder schlechter. Er gleicht einem Fluss. Der Ort bleibt, aber das Wasser ist immer in der Bewegung. Nur dass wir Menschen für eine bestimmte Zeit – kurz oder lang – die »Beweger des Wassers« sind.

Wir legen Samen in die Erde, freuen uns über die grünen Stängel und zarte Blüten, bewahren sie vor dem Austrocknen oder vor »nassen Füßen«, schützen sie vor dem Wind, stützen sie, behüten sie vor der Kälte, auch vor den übergriffigen Nachbarpflanzen. Und bei all diesen Tätigkeiten prüfen wir, wie es dabei der Erde geht. Was will dieses Stück mir anvertrauter Erde, damit auf ihr das Sinnvolle wachsen und gedeihen kann? Die Erde ist die Grundlage allen Wachstums und aller Wandlung. Sie ist auch die Grundlage für unsere Erinnerung.

Ein Schälchen Erde auf dem Schreibtisch von Goethe kann Geschichten erzählen. Eine Handvoll Erde, an der man als Kind gerochen hat, ruft die Bilder hervor, die einem verloren schienen. Aber nichts kann wirklich verloren gehen. Nicht der verwilderte Garten des Nachbarn, nicht die Arbeit, die man gerne in ein Stück Erde steckte, die einem nicht gehörte. Auch nicht das Gefühl der in den Leib eindringenden Wärme auf der Sommerwiese, kurz bevor man sie mäht.

Die Hässlichkeit ist ansteckend. Die Schönheit auch. Ich muss oft daran denken, wenn ich die Grenzen der Länder passiere. Die Grenzzonen mit betonierten Pfosten und asphaltierten Streifen sind hässlich. Niemand liebt sie. Die Gärten, Menschenlandschaften, wie ich sie nenne, sind schön. Sie sind es aber nicht wegen einer bestimmten Pflanze, Blüte oder geometrisch angeordneten Bäumen. Sie sind es wegen der Liebe, die in diesem Stück verwandelter Erde steckt. Darum suchen wir in den Gärten Trost und Erholung.

Und selbst wenn das Leben mit Schmerz oder Sorge erfüllt ist, kann Gärtnern und im Garten verweilen Freude in den Tag bringen. Ein Garten kann auch heilen: Traurige trösten, Ängstlichen neuen Mut geben, Einsamen wahre, andauernde Gesellschaft bieten, Müde beleben und kräftigen.

Meine Lieblingsgärten sind jedoch ohne Grenze, ohne Zaun und Stacheldraht, so dass jeder Wanderer des Weges kommen kann und ein paar Samen, die er in seiner Tasche mitträgt, in die Erde legen kann. Einfach so. Weil man ein Stück Erde liebhat: dieses und jenes Stück Erde: asche-grau, bräunlich, schwarz und fett, rötlich-warm, lehmig-gelb, in dem Schälchen auf einem fremden Arbeitstisch, hier in einer Handvoll Erde aus der eigenen Erinnerung.

Zur Autorin: Yaroslava Black ist Priesterin der Christengemeinschaft in Köln