Eine kannibalische Weltordnung

Philip Kovce

Gute Literatur zeichnet aus, dass der Vorgang des Nachdenkens den ihres Lesens überdauert. Das scheint nicht sonderlich schwer zu sein, wenn die Lektüre eines Buches handgestoppt bloß acht Minuten dauert. Trotzdem ist es – beides, das Lesen und das Nachdenken – allemal lohnenswert. Jedenfalls in diesem Fall.

Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler, seit Jahren bekannt für seine deutlichen Worte, sollte am 27. Juli 2011 die Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele halten. Dazu kam es nicht, denn die Verantwortlichen, die Ziegler eingeladen hatten, luden ihn wieder aus (und stattdessen Joachim Gauck ein). Über die Gründe dafür wurde heftig spekuliert, sicher hatten sie wohl etwas mit dem zu tun, was Ziegler hätte sagen wollen.

Das hat Ziegler nun zwar nicht sagen, aber immerhin schreiben können. Er hat seine Eröffnungsworte inzwischen als Büchlein vorgelegt. Hätte Ziegler geredet, hätten auch die Sponsoren – unter ihnen zwei Schweizer Großkonzerne – Sätze hören müssen wie diese: »Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren«. »Es gibt keinen objektiven Mangel, also keine Fatalität für das tägliche Massaker des Hungers, das in eisiger Normalität vor sich geht«. »Viele der Schönen und Reichen, der Großbankiers und der Konzern-Mogule dieser Welt kommen in Salzburg zusammen. Sie sind die Verursacher und Herren dieser kannibalischen Weltordnung«.

Was hat das alles mit Kunst zu tun und mit den Salzburger Festspielen? Nun, Ziegler träumt davon, dass die Kunst Berührungsmomente schafft, die auch im Sozialen zu neuen Brücken führen können – entlarvt sich dabei aber selbst als Träumer und fügt frustriert hinzu: »Kapital ist immer und überall und zu allen Zeiten stärker als Kunst.« Nur in der »aktiven, unermüdlichen, solidarischen, demokratischen Organisation der Gegengewalt« gegen die »westlichen Herrschaftsländer« sieht Ziegler eine Lösung.

Betrachten wir die Sache genauer: Die Ausladung Zieglers ist tragisch – seine geschriebene Rede aber nicht minder. Denn auch wenn Ziegler zu Recht auf unsägliche Missstände hinweist, zu Recht vor allem marxistisches Vokabular für deren Kritik bemüht, so ist dieses nicht dazu in der Lage, Lösungen zu finden.

Die »strukturelle Gewalt des Kapitals« geht nämlich nicht von einigen wenigen Konzernen, sondern längst von einem jeden aus, der sich bewusstseinsmäßig schuldig an den genannten Umständen fühlt – und dementsprechend handelt. Erst wenn also auch Zieglers beschränkter Kapitalbegriff gesprengt wird, ist eine Koalition der Willigen möglich und fähig, die Probleme des 21. Jahrhunderts in Angriff zu nehmen. Wer zweieinhalb Euro, acht Leseminuten und endloses Nachdenken in dieses Auf(er)stehen des Gewissens investieren will, sollte es tun.

Jean Ziegler: Der Aufstand des Gewissens. Die nicht-gehaltene Festspielrede 2011, 16 S., kart., EUR 2,50, Ecowin Verlag, Salzburg 2011