Eine Nische im verordneten Glück. Die erste Waldorfinitiative in Venezuela

Thomas Wildgruber

»Ein Volk, ein Herz, eine glückliche Heimat. Viva el Socialismo!« Mit großen Lettern begrüßt die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas PSUV die ankommenden Reisenden im Flughafen von Caracas. In der Gepäckhalle grüßt Coca Cola auf bunten Plakaten: »La felicidad es tu destino.« – »Glücklich zu sein ist deine Bestimmung.« Doch zwischen den Privilegien der politischen Nomenklatura und den mit Öleinnahmen ruhig gestellten Armen tut sich insbesondere die Mittelschicht schwer, ihr Glück zu machen. Sie versucht, sich Spielräume zu schaffen – etwa, indem sie ihren Kindern eine andere Art der Schulbildung zu ermöglichen sucht.

Seit 1998 bis zu seinem Tod im März 2013 bescherten Hugo Chávez und seine PSUV den Einwohnern ihr Glück. Und Socialismo heißt immer noch Chavismo. Fast an jeder Straßenecke in Caracas begegnete mir der Slogan »Chaves no murió, se multiplicó.« – »Chávez ist nicht gestorben; er hat sich vervielfältigt.« Die Partei hat ihn zu den Heiligen erhoben; so erscheint er zusammen mit einem Christus-Bild bunt und lebendig auf den Plakaten: »Heute, morgen und für immer, der Befreier des 21. Jahrhunderts.« So steht er auf der Höhe des Nationalhelden Simón Bolivar, dessen Ausspruch über die Erziehung viel zitiert wird: »Die Nationen erreichen ihre Größe im selben Tempo wie ihre Erziehung voranschreitet.«

Caracas ist eine Metropole wie andere lateinamerikanische Städte: chaotisch modern, mit fehlender Infrastruktur, mit den täglichen Verkehrsstaus, mit vergitterten Häusern, doch mit nur wenigen Bettlern und fliegenden Händlern an den Ampelkreuzungen oder Obdachlosen auf den nächtlichen Straßen. Reiche tragen in diesem Land ihren Reichtum mit ihren Limousinen, Luxus-Häusern und Country Clubs offen zur Schau. Sie schicken ihre Kinder auf teure Privatschulen. Die Armen leben in den »barrios« an den Rändern der Stadt. Dort beschert ihnen die Regierung subventionierte Lebensmittel, billigen Strom und Benzin. Sie sammelt »Punkte«, wie die Leute sagen, für die nächsten Wahlen. Die Mittelschicht muss sich mit dem Mangel, mit Gewalt und Diebstahl, mit bürokratischen Auflagen für private Investitionen und Initiativen arrangieren.

Der Ölreichtum Venezuelas birgt das Paradox, dass der kapitalistische Erzfeind USA, der größte Abnehmer des Erdöls, zugleich der größte Lieferant von Grundnahrungsmitteln ist, die in dem klimatisch begünstigten Land mehr als ausreichend anzubauen wären. Der Staatsapparat hat genug Geld aus der Ölförderung. Bürokratische und politische Willkür ersticken eine nationale wirtschaftliche Entwicklung mit der Folge ökonomischen Stillstands. Wach werden dafür Menschen aus der Mittelschicht, die so gebildet sind, dass sie die Zusammenhänge durchschauen und immer wieder versuchen, das zu ändern. Politisch werden sie ausgebremst, kulturell bauen sie sich Nischen.

Ich treffe eine kleine Gruppe, die seit einigen Jahren Steiner-Texte und anthroposophische Literatur studiert und den landwirtschaftlichen und pädagogischen Impuls der Anthroposophie in ihrem Land aufnehmen möchte. Die Kurse, die wir an der Universität Católica Andrés Bello abhalten, sind mit 25 äußerst interessierten und aktiven Teilnehmern besetzt. Eine Gruppe von zehn Personen, vor allem Lehrerinnen, suchen jetzt nach einer grundlegenden Ausbildung in Waldorfunterrichtsmethodik und nach Lehrern in Lateinamerika, die ihren Impuls unterstützen.

Enrique, der erste Waldorfschüler Venezuelas

Ein Privathaus im Wald auf den Bergen außerhalb der Hauptstadt Caracas. Carolina, Zahnärztin und Mutter zweier Jungen, unterrichtet Enrique, ihren älteren, achtjährigen Sohn zu Hause. Sie hat in Argentinien an Kursen zur Waldorfpädagogik teilgenommen. Ihr Mann unterstützt sie in jeder Hinsicht. Enrique war schon auf verschiedenen Schulen – immer unglücklich über Lärm und Ungerechtigkeiten.

Jeden Morgen um acht Uhr beginnt der Hausunterricht – mit dem Morgenspruch in spanischer Sprache, mit Bewegungsübungen, Sprüchen, Zählübungen, mit Singen und Flötenspiel. Enrique hat Schreibepoche. Carolina ist gerade dabei, mit Bildergeschichten die Buchstaben einzuführen. Enrique liest und schreibt langsam, er legt mit einem großen Seil die Buchstabenform auf den Boden und spricht darauf balancierend »Luna, Lunes, Lulu …« Dann sucht er nach neuen Wörtern mit dem Anfangsbuchstaben L. Zum Abschluss des »Hauptunterrichtes« gibt es eine Geschichte. Dann kommt noch der »Fachunterricht« mit Handarbeit oder Malen und täglich die von Enrique so geliebte Arbeit im Garten, in dem dank des tropisch warmen Klimas mit täglichem Regen fast alles wächst, besonders die vielen Bananenarten. Er füttert die Ponys und Hühner. Und dann hat er frei.

In den Ferien kommen mehrere Kinder zu Carolina ins Haus und in den Garten, um in einer Art Freizeitschule zu spielen, zu basteln und Geschichten zu hören.

Mit ihrer Waldorf-Initiative für diese Kinder war Carolina zuerst allein in Caracas. Dann fand sie Gleichgesinnte in der anthroposophischen Arbeitsgruppe. Sie suchte Eltern und Pädagogen und bleibt mit ihnen weiter initiativ, um die Idee der Waldorfpädagogik in ihrem Land Wirklichkeit werden zu lassen. Die Gruppe von Lehrerinnen, die sich nach den Kursen in der Katholischen Universität gefunden hat, wird B. C. J. Lievegoeds Entwicklungsphasen des Kindes in spanischer Sprache studieren und wartet auf einen spanisch sprechenden Waldorflehrer, der den Start einer ersten Schülergruppe in Venezuela begleiten kann.

Zum Autor: Thomas Wildgruber war von 1979 bis 2011 Klassenlehrer und Kunstlehrer für die Klassen 1 bis 8, veröffentlichte das Handbuch »Malen und Zeichnen 1. bis 8. Schuljahr« und gibt weltweit Fortbildungen in Methodik und Kunstdidaktik.

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