Eine Oase in Beirut

Christiane Leiste

Die Gründerin des Waldorfkindergartens Bait-al-Shams im palästinensischen Flüchtlingslager Shatila in Beirut lud mich ein, mit den Vorschulerzieherinnen ihres Kindergartens einen Workshop zum Thema Buchstaben- und Zahleneinführung nach der Waldorf-Methode zu machen.

Da stellt sich zunächst die Frage: Warum im Waldorfkindergarten Buchstaben und Zahlen? Das gehört doch gar nicht in den Kindergarten, sondern in die Schule. Das ist aber deutsch gedacht. Die Verhältnisse im Libanon sind andere als bei uns. Die Kinder werden dort mit sechs Jahren eingeschult. Zum Schuleintritt wird die Kenntnis des arabischen und englischen Alphabets und der Zahlen von eins bis zehn vorausgesetzt, und die Kinder müssen in der Lage sein, leichte Rechenoperationen durchzuführen, sowie einfache Buchstabenkombinationen zu lesen.

Ich war darauf vorbereitet, was mich in Shatila erwarten würde. Ich wusste, dass es ein UN-Flüchtlingscamp ist, 1948 für Palästinenser geschaffen, die durch die israelische Staatsgründung ihrer Heimat beraubt worden waren. Ich wusste, dass die Verhältnisse erbärmlich sind, das Camp arm und überfüllt und die Bewohner des Camps kaum Rechte im Libanon haben. Gute Schulbildung ist für sie nur schwer zu bekommen, sie erhalten weder Pass, noch Arbeitsgenehmigung, obwohl sie nun schon in der dritten Generation im Libanon leben. Ganz zu schweigen von den Traumata des Gemetzels von Sabra und Shatila im September 1982, unter denen immer noch viele Menschen leiden.

Ich ging am ersten Morgen, geführt von Mariam, der Kindergartenleiterin, durch die engen, heißen Gassen von Shatila. Es war laut, Menschen schrien und riefen durcheinander, Kinder kreischten, Mopeds knatterten. Es war voll, überall Stände mit Obst, Gemüse, Kleidern, Gemischtwaren, Kohlen: Alles, was der Mensch braucht, wurde auf der Straße feilgeboten. Es roch teilweise sehr streng und Fliegen flogen herum; auf der Straße mischten sich Schlamm, Dreck und Abfälle. Wir drängelten uns durch die Menschen, bogen dann in eine enge dunkle Gasse ein, gingen in einen düsteren Hausflur, stiegen ein paar Treppen im Halbdunkel hoch und dann – dann war auf einmal alles anders: Mariam hielt vor einer rot lackierten Tür und steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch.

Die Tür erinnerte in ihrem Rot an die Tür eines chinesischen Hochzeitsschranks. Sie ging auf und ich hielt wirklich einen Moment den Atem an: Plötzlich war es ganz hell. Helle Marmorstufen führten weiter nach oben, die Wände waren in einem freundlichen, hellgelben Ton gestrichen, kein Schmutz an den Wänden oder auf der Treppe, kein Fleck. Hier war es still.

Unerwartet ruhig und heilsam

Wir gingen nach oben und begegneten einigen Erzieherinnen, die mich alle freundlich begrüßten. Einige Kinder waren auch schon da. Sie grüßten schüchtern, aber fröhlich. Ich war verblüfft. So etwas Schönes, Feines, so eine ruhige heilsame Atmosphäre, wie dieser Kindergarten sie ausstrahlte, hatte ich nicht erwartet.

Ich hospitierte nun am ersten Tag in allen drei Gruppen und war immer wieder berührt, mit welcher stillen, liebevollen Zuwendung die Erzieherinnen mit den Kindern umgingen. In allen Gruppen gab es einen Morgenkreis und Reigen in Arabisch und Englisch. Dann wurde singend Fladenbrot gebacken, die Kinder spielten auf dem Dach mit Sand, wurden von den singenden Kindergärtnerinnen nebenbei nach Läusen abgesucht, es wurde gebastelt und gespielt. Es war einfach ein Glück und eine Freude zu erleben, wie gut die Kinder es hier haben.

Die Arbeit mit den beiden Erzieherinnen Inas und Samah begann: Einführung ins Formenzeichnen, Buchstabeneinführung, Buchstabengeschichten, Buchstabenbilder, Heftführung, Tafelbilder. Die beiden jungen Frauen waren lernbegierig und eifrig dabei. Sie verstanden sofort, worum es ging, fingen Feuer für die Methode und meinten am dritten Tag, sie könnten es gar nicht erwarten, endlich anzufangen. Wir arbeiteten auch rhythmisch, sprachen Reime und Lieder, hüpften, sangen und übten Verse zur Links-Rechts-Orientierung.

In den nächsten Tagen verdeutlichten wir uns den Unterschied von Konsonanten und Vokalen, überlegten gemeinsam, wie die Vokale eingeführt werden könnten. Die beiden Erzieherinnen entwickelten auch ein feines Gefühl für die eurythmischen Gesten, als ich versuchte, ihnen die unterschiedlichen Charaktere der Buchstaben zu vermitteln.

Anschließend setzen wir uns intensiv mit dem Thema Erzählen auseinander. Jede bereitete eine Buchstabengeschichte vor, die sie den anderen erzählten. Wie geht das mit arabischen Buchstaben? Ich verstand zwar kein Wort, war aber dennoch ganz in den Bann der Geschichte gezogen, die so lebendig, mit reichlich Gesten und Mimik erzählt wurde, dass ich auch ohne arabische Sprachkenntnisse ganz eingebunden war.

Zwerg oder Dschinn?

Mit den Zahlen war es einfacher. Wir konnten die europäische Art ihrer Einführung gut auf die arabischen Zahlen übertragen. Beim Erarbeiten der Bilder stellten sich auch interkulturelle Fragen: Wie sehen die Berge im Libanon aus? Wie fühlt es sich hier an, eine Bergwanderung vor Sonnenaufgang zu machen? Wie ist es, wenn dann die Sonne aufgeht? Wie, wenn das weite, blaue Meer vor einem auftaucht? Sicherlich ganz anders, als bei einer Alpenwanderung. Und welche Farben gibt es in der Natur? Ja, und wie sieht ein arabischer Zwerg aus? Doch eher nicht mit roter Zipfelmütze, oder? Samah und Inas meinten, doch schon, denn sie kennen nur die Zwerge von Schneewittchen. Ja, aber ein richtiger arabischer Zwerg? Ist das so etwas wie ein Dschinn? Und wenn ja, wie sieht der aus? Und geht es überhaupt in der muslimischen Gesellschaft, Elementarwesen, in der Weise, wie wir es in europäischen Waldorfschulen tun, bildhaft einzubinden? Über diese Fragen sprachen wir, mussten recherchieren, denn auf keinen Fall wollten wir deutsche Waldorfpädagogik in Shatila kopieren.

Nach einer Woche Arbeit hatte ich das Gefühl, ein großes Paket abgegeben zu haben, aber auch ein großes Geschenk mit Eindrücken und Erlebnissen mit nach Hause zu nehmen. Ich bin beeindruckt, mit welch großer Offenheit und hoher Lernbereitschaft, mit welchem Interesse, welcher Energie und welch künstlerischer Fähigkeit die Erzieherinnen aus Shatila alles aufgenommen und verarbeitet haben.

Zur Autorin: Christiane Leiste ist Waldorflehrerin und interkulturelle Koordinatorin. Sie war Projektleiterin des Schulversuchs Interkulturelle Waldorfpädagogik im Brennpunkt Hamburg Wilhelmsburg. Derzeit unterrichtet sie geflüchtete Kinder in einer Vorbereitungsklasse.