Eine Schule, die gibt und empfängt

Darija Koljadko

Was bedeutet die Schule für mich, was hat sie mir gegeben? Ich sitze und denke nach, versuche mich genau an alles, was war, zu erinnern, und das Wesentliche herauszuschälen. Wie schwer das ist!

Meine Erinnerungen an die Schule sind wie Bilder von Waldorfschülern einer ersten Klasse: kräftige Farbflecken, Formen – Ausdruck von starken Empfindungen und glücklichen Erfahrungen. Was aber gehört zu den glücklichsten Erlebnissen der Schulzeit? Das Anmalen von Laternen, das Stricken von Schäfchen, das Schmücken des Klassenzimmers und die Zubereitung von Sauerkraut für den Basar, das Nähen von Kostümen für das Klassenspiel, das Klassenspiel selbst und unser Gesang, das Gefühl, dass wir ständig gesungen haben. Und dann die Klassenfahrten! Wie viele gab es davon! Weihnachten, das Spielen auf dem Xylophon, das Adventssingen, das Wichteln, die Weihnachtsspiele, die Tourneen mit unseren Spielen in andere Städte und in das Ausland, das Malen, die Eurythmie, die Projekte, der Gesellschaftstanz und das Pflanzen einer Kastanie auf dem Schulhof an unserem letzten Schultag. Das alles gab es, und all das gehört zu mir und wird immer ein Teil von mir sein.

Und wo bleibt der Unterricht? Unterricht fand natürlich auch statt und ist auch ein Teil von mir. An ihn erinnere ich mich ganz genau. Aber an erster Stelle steht trotzdem alles, was durch meine Hände gegangen ist, alles, an dem meine Phantasie, meine Arbeit, meine Erwartungen, meine Erlebnisse beteiligt waren und meine ersten kleinen Erfolge … Ich sitze und grüble und dann verstehe ich es!

Ein Ort, der sich durch uns verändert

In einem Punkt sind sich alle Ehemaligen einig: dass unsere Schule uns viel gegeben hat und das stimmt wirklich. Aber was ist mit den anderen guten Schulen in Moskau, den Gymnasien und Lyzeen? Jede gute Schule gibt doch ihren Schülern viel. Immer wieder habe ich während meines Studiums meine Kommilitonen gefragt, ob sie ihre Schule gut fanden, ob sie ihnen viel gegeben hat, und fast alle haben geantwortet, dass sie viel gelernt haben, gute Lehrer hatten, tolle Klassenfahrten und Feste gemacht haben. Aber auf meine Frage, ob sie nach dem Abi-Ball mal in ihrer Schule gewesen seien, kam stets die Frage: Wozu? – »Wer auf einer guten Schule war, der hat Kenntnisse und gute Freunde, beides nimmt er mit. Mit den Schulfreunden kannst du dich doch an jedem beliebigen Ort in der Stadt treffen«, so ihr Kommentar.

»Und deine Schule? Was ist mit ihr?«, fragte ich.

»Die Schule? – Das ist einfach ein Gebäude aus Mauern und Wänden. Wenn du Glück hast, ist dieses Gebäude schön und einladend. Aber die Aufgabe eines begabten Schülers ist, dort ein Maximum an Wissen zu bekommen.«

Das hört sich richtig an. Aber ist das für uns Waldorfschüler wirklich auch so? Würde irgendjemand über unsere Schule sagen, dass er so viel wie möglich mitgenommen hat und weiter nichts? Würde jemand unsere Schule als ein Gebäude beschreiben, in dem allein Kenntnisse vermittelt werden? Was ist mit all den Dingen, die wir in der Schule zurückgelassen haben, die man nicht so einfach mitnehmen kann, weil sie nicht nur zu uns, sondern zu uns und der Schule gehören?

Und jetzt wurde mir der wesentliche Unterschied klar: Unsere Schule gibt viel und das ist wunderbar. Aber sie nimmt auch entgegen. Ist das irgend jemandem schon mal in den Sinn gekommen? Ich weiß es nicht, aber für mich ist es genau das, was unsere Schule prinzipiell von sehr vielen anderen Schulen unterscheidet. Unsere Schule ist eine Schule, die nicht nur gibt, sondern auch empfängt. Ist das nicht absurd? Natürlich nicht! Es ist nur eine seltene Gabe.

Erinnert ihr euch, wie die Schule jedem von uns die Möglichkeit gab – gelegentlich auch mit Nachdruck nahelegte, und das gehört bei einer Schule wohl mal dazu –, sich zu engagieren, etwas einzubringen: Euer Bemühen, eure Arbeit und euch als wichtigen Teil einer Sache zu fühlen, Teil von dem zu sein, was gerade entstand und dann die Früchte dieser Arbeit zu ernten und sie mit den anderen zu teilen?

Ich bin sicher, dass jeder, der durch unsere Schule geht, egal ob es Schüler, Lehrer, Eltern oder Ehemalige sind, etwas findet, an dessen Entstehen er beteiligt war, sei es etwas Sichtbares oder etwas Unsichtbares. Selbst wenn er es nicht mehr finden sollte, weil schon zu viele Jahre verflossen sind, wird er sich trotzdem daran erinnern und wissen, dass seine Arbeit Spuren hinterlassen hat.

Erinnern wir uns an all das, was wir zubereitet, gemalt, geschmückt, gebaut, repariert, angeschafft und geübt haben, alles, in das wir unser Herz hineingelegt haben, der eine weniger, der andere mehr, der eine häufiger, der andere seltener. Jeder hat sich engagiert und wusste, dass das nichts für seine akademische Laufbahn bringt, dass das kein weiterer »Taler« in die Sparbüchse »Kenntnisse für das Abitur« ist, sondern Arbeit und Zeit für eine gemeinsame Sache, für alle, für unsere Schule. Und diese unsere Schule ist imstande, das alles aufzunehmen! So aufzunehmen, dass man sich das nächste Mal wieder engagieren möchte, dass das Ergebnis aller Bemühungen niemanden gleichgültig lässt, dass man sich als Persönlichkeit anerkannt und gebraucht fühlt und fähig ist, nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben.

Ein zweites Zuhause

Für viele von uns Ehemaligen ist unsere Schule zu unserem zweiten Zuhause geworden, weil in einer gesunden Familie alle gleiche Rechte haben, weil es dort niemanden gibt, der nur gibt oder nur empfängt. Ich erinnere mich, wie wichtig es für uns Kleine war, die zu den Eltern und Lehrern aufblickten, als unsere Schäfchen, die wir selber gestrickt hatten, von den Erwachsenen auf dem Weihnachtsbasar bestaunt und dann sogar gekauft wurden. Aha, dann müssen sie wirklich gelungen sein, – so dachten wir. – Man kann doch Vorder- und Hinterbeine kaum voneinander unterscheiden, so war unsere Vorstellung. Dabei konnte man doch die Hinter- kaum von den Vorderbeinen unterscheiden!

Ich erinnere mich an die Bank im Hof, die wir gebaut haben, an den roten Vorhang im Saal, gekauft von dem Geld, das wir am Weihnachtsbasar in unserem Café zusammen bekommen hatten, an meinen ersten Artikel in unserer Schulzeitung, an das Glücksgefühl nach dem Sieg mit unserem Spiel »Demetrius« in Österreich, an den Beifall und die Augen des Publikums bei all unseren Klassenspielen, an die Gesichter der Erstklässler, als wir sie durch die Adventsspirale führten, an die Tränen in den Augen der Lehrer, als wir dem Jesus­kind beim Weihnachtsspiel das Wiegenlied sangen, die Tränen in den Augen meiner Mutter, als ich die Eurydike in unserem Eurythmie-Projekt tanzte, die Tränen und das Lächeln unserer Lehrer, als wir die Schule verließen und vieles mehr …

Schule und Schüler – Nehmen und Geben

Und was habe ich im Frühling dieses Jahres noch entdeckt? Die Kastanie, die wir 2005 im Hof an unserem letzten Schultag pflanzten, zeigt die ersten Fruchtknoten. Sie wird in diesem Jahr die ersten Früchte tragen!

Das alles haben wir einander gegeben! Jeder und jede Ehemalige wird seine eigene Liste haben und auf seine Weise wird das eine endlose Liste von Ereignissen sein … Und das Erstaunlichste ist: Alles, was die Schule von uns empfangen hat, gibt sie uns tausendfach zurück. Und was bleibt zurück? Unvergessliche Augenblicke.

Aus all dem haben wir uns geformt, Schritt für Schritt, über Jahre, und unsere Schule ebenso. Und jetzt ist sie schon 20 Jahre alt. Vieles ist unwiederbringlich dahin, vieles hat sich verwandelt. Aber ich bin mir gewiss, dass diese Schule die Gabe, unsere Hoffnungen und unser Bemühen anzunehmen, nie verlieren wird. Und versucht erst gar nicht, das Maximum aus dieser Schule herauszuholen, ohne selber eure Zeit, eure Kraft und euer Talent in sie einfließen zu lassen! Denn dies ist eine andere Schule.

Vielleicht bekommt ihr in ihren Mauern nicht alles akademische Wissen, wie an anderen Orten, aber ihr lernt dafür ganz bestimmt nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben. Zu geben ohne ärmer, sondern reicher zu werden! Jahre sind vergangen … Auf den Fluren der Schule lauter unbekannte Schülergesichter, auch Lehrer, die ich nicht kenne … Aber das stört mich gar nicht, weil ich weiß, dass solange es diese Schule gibt, ich immer jemand finden werde, zu dem ich kommen kann. Es ist, als ob die Schule lebendig sei, gebildet aus all dem, was wir in sie hineingegeben haben. Wie ein Elternhaus, das für das ganze Leben unerschöpfliche Lebenskräfte birgt, Hilfe und Liebe, hier und jetzt und in unserer Erinnerung.

Übersetzung aus dem Russischen: Ute Konovalenko

Darija Koljadko ist eine ehemalige Absolventin der Moskauer Waldorfschule Nr. 1060. Sie besuchte die Schule von 1994 bis 2005 und hat diese Zeilen zu deren 20-jährigem Bestehen verfasst, das im September 2012 gefeiert wurde. Darija ist inzwischen Betriebswirtin.