48 Kinder und 14 Lehrer lernen in der Schnellerstraße in einem zweistöckigen Plattenbau. Um das Schulgebäude in der Schnellerstrasse herum gibt es viel Platz. Dort stehen alte Platanen, die im Sommer Schatten spenden und es gibt die Möglichkeit, langsam zu wachsen. Noch reicht der Platz für die erste und die kombinierte zweite und dritte Klasse, aber es kommen mehr Kinder und das zweite Stockwerk soll bald angemietet werden. »So etwas muss man erst einmal finden, ein Gebäude, das einfach mitwächst«, freut sich die Klassenlehrerin Cecilia Graff und erinnert sich, wie im Schuljahr zuvor die Einschulung in die Interkulturelle Waldorfschule platzte, weil es eine kurzfristige Absage des ersten Vermieters gab und Eltern und Kinder ein ganzes Jahr vertröstet werden mussten.
Seit 2010 gibt es diese Initiative, die aus dem Institut für Dreigliederung mit Johannes Mosmann und Sylvain Coiplet hervorgegangen ist. Christoph Doll, der die Interkulturelle Waldorfschule in Mannheim mitaufgebaut hat, begleitet den Prozess und das Berliner Waldorfseminar steht Pate. Die meisten Kinder kommen aus zweisprachigen Elternhäusern, nur drei Kinder sprechen gar kein Deutsch. Einige kommen aus Neukölln, doch das Einzugsgebiet reicht bis in den Nordosten der Stadt, bis Pankow und Friedrichshain.
In Niederschöneweide, ehemals als »Nazihochburg« verschrien, jetzt ein Stadtteil im Aufblühen, liegt der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bei ungefähr zwölf Prozent, um die Ecke, in Neukölln sind es über 40 Prozent. »Es klingt vielleicht ein bisschen absurd«, sagt die Klassenlehrerin »aber wir haben Eltern aus Neukölln, die ihr Kind zu uns bringen, weil sie gerade nicht wollen, dass es in eine Schule in ihrem Stadtteil geht.«
Kulturen schwingen ineinander
Was ist anders in der Interkulturellen Waldorfschule, als in einer Schule im sozialen Brennpunkt Neukölln, wo es Klassen mit bis zu 80 Prozent Schülern nicht-deutscher Herkunftssprache gibt?
»Eigentlich ist ja jede Waldorfschule interkulturell«, sagt Christoph Doll, »die Interkulturelle Waldorfschule will aber sozial-integrativ sein, und hat den Anspruch, in jeder Klasse einen Querschnitt der Gesellschaft abzubilden.« Interkulturell bedeutet für die Gründer auch, nicht einen bestimmten Kulturkreis, eine bestimmte Religion zu bevorzugen: »Jeder vertretene Kulturkreis soll nicht nur toleriert, sondern von den Angehörigen anderer Kulturkreise wahrgenommen, erkannt und wertgeschätzt werden«, schreibt Mosmann zum Konzept der Schule auf seiner Netzseite. Um dies lebendig zu machen, gibt es zum Beispiel das Fach »Begegnungssprache«. Angeboten werden: Arabisch, Türkisch und Spanisch. Zweimal in der Woche nehmen die Kinder daran teil, sie sollen ihre Muttersprache auch in der Schule sprechen und pflegen können, sich zu Hause fühlen dürfen. Dieser Unterricht soll später in die zweite Fremdsprache münden, so sieht es das Schulkonzept vor. Kinder mit deutscher Muttersprache dürfen sich eine Begegnungssprache aussuchen.
Pedro (alle Namen von Kindern geändert) hat Arabisch bei Aischa Hamdani gewählt, obwohl zu Hause Spanisch gesprochen wird. Auch das ist manchmal möglich. Frau Hamdani hat zum Geburtstag des Propheten Mohammed ein arabisches Lied mit den Kindern eingeübt und den Eltern vorgetragen. Seit 20 Jahren ist sie bereits in Deutschland, aber dass sie einmal mit Max und Lisa ein Lied aus ihrer Heimat Algerien singen würde, hätte sie sich nie träumen lassen. »Das hat mich 30 Jahre zurückversetzt!«, erzählt sie begeistert und man merkt, wie sehr es sie bewegt, dass sie deutschen Kindern und Eltern ein Stück ihrer Kultur zeigen darf.
Die Interkulturelle Waldorfschule Berlin möchte Mittler sein, ein Resonanzkörper, durch den die verschiedenen Kulturen, die Welt- und Gottesbilder, die aus den Elternhäusern in die Schule getragen werden, miteinander schwingen können. Eine besondere Rolle kommt darum Fridtjof Meyer-Radkau zu. Er ist Schulsozialarbeiter und kümmert sich um eine gute Kommunikation zwischen Eltern, Lehrern und Schülern. Meyer-Radkau ist Experte auf seinem Gebiet, denn er hat seine Masterarbeit über Schulsozialarbeit an Waldorfschulen geschrieben, einem Thema, das in der Waldorfpädagogik immer mehr Beachtung findet. Regelmäßig hospitiert er in den Klassen, führt Gespräche mit Lehrern und Eltern und ist Vertrauenslehrer für die Schüler.
Neuer Blick auf schal gewordene Feste
In der Arbeitsgemeinschaft Feste entscheiden Eltern und Lehrer gemeinsam, was gefeiert wird. Da gibt es zum Glück vom Berliner Senat den ›Interkulturellen Kalender‹, auf dem die meisten Feste verzeichnet sind. In diesem ersten Jahr wird viel ausprobiert und es ist noch nicht klar, welche Traditionen angelegt und was jedes Jahr erneut gefeiert werden soll.
»In der Arbeitsgemeinschaft beschäftigen wir uns auch viel mit den Ursprüngen und Traditionen der Feste«, erzählt Graff. »Die meisten richten sich nach dem Jahreslauf, darum gibt es viele Gemeinsamkeiten, immer geht es darum, sich von Altem zu lösen, es zu verabschieden oder gar auszutreiben, sich Neues zu wünschen und willkommen zu heißen.« Graff berichtet, dass das gemeinsame Feiern der Feste anderer Kulturen wieder für die eigenen sensibilisiert: »Was schal und leer geworden ist – im Licht der Feste anderer Kulturen sieht man es wieder mit ganz anderen Augen.« Sie ist eine erfahrene Klassenlehrerin. An einem ersten Elternabend erzählt sie, wie ein Schulalltag aussieht.
Aber schon, als sie den traditionellen Morgenspruch vorstellt, gibt es kritische Nachfragen und Diskussionen mit den Eltern. Vor ihr sitzen nicht nur Mütter und Väter aus anderen Kulturkreisen und mit unterschiedlichen Gottesvorstellungen, es gibt auch atheistische Eltern.
Einmal hatte Graff ein langes Elterngespräch. Eine Mutter stieß sich an dem Fingerspiel »Itzen Ditzen Silberspitzen, alle Kinder sollen sitzen«. Es führt dazu, dass die Kinder schließlich mit gefalteten Händen dasitzen, um ihr Tischgebet zu sprechen. Aber genau an der Geste der gefalteten Hände stieß sich diese Mutter – als zu unterwürfig und demütig empfand sie diese für ihr Kind. Cecilia Graff gab das zu denken: Was bedeutete diese Geste eigentlich? Was war ihr Ursprung? Tatsächlich hat das Händefalten offenbar mit dem Lehnseid zu tun, den die Vasallen ihrem Herrn in die Hand versprachen: Die Hände wurden zusammengelegt und so in die Hände des Lehnsherrn gelegt als Zeichen der Treue und Abhängigkeit. Die Urchristen dagegen beteten stehend mit geöffneten Armen, eine Geste die der anderen Weltreligionen ähnlich ist. Welche weiteren Überlegungen man auch immer daran anschließen mag – durch die Begegnung mit anderen Kulturen erweitert sich unsere Perspektive und viele Dinge, die wir bisher für selbstverständlich hielten, sehen wir mit neuen Augen.
Die Eltern suchen nicht in erster Linie Waldorfpädagogik
Eltern und Pädagogen der Interkulturellen Waldorfschule suchen das Wesentliche in Traditionen und Riten und wollen offen für vielfältige Formen sein. Offenheit gegenüber fremden Formen ist sicherlich eine Grundvoraussetzung für gelingende Interkulturalität. Graffs Frage liegt darum nahe: »Wenn wir uns in Traditionen, auch Waldorftraditionen, hermetisch abriegeln, wie soll dann Begegnung möglich sein?« Die Eltern, die ihre Kinder in die Interkulturelle Waldorfschule bringen, wissen kaum etwas von Waldorfpädagogik.
Warum wählen sie die Interkulturelle Waldorfschule, wenn es nicht die Entscheidung für die Waldorfpädagogik ist? Vielleicht, weil sie etwas anderes für ihr Kind suchen, unglücklich sind mit dem staatlichen Schulsystem und erstaunt, an welch einfachen Dingen ihre Kinder Freude entwickeln und wie gut ihnen eine Schule ohne Notendruck tut. Aber auch die Sehnsucht nach einer Schule, die eine Antwort auf die Frage sucht, wie Kulturen und Religionen achtsam und friedlich zusammenleben können, ist groß.
Eine Mutter postet auf der Facebookseite der Schule: »Als wir an dem Schild in der Schnellerstraße vorbeigefahren sind, war ich sofort begeistert! Ja, ich möchte, dass meine Kinder in eine Schule gehen, die die Vielfalt der Menschen nicht nur erzählt, sondern lebt. Ich möchte, dass sie Neuem und Unbekanntem mit Neugier begegnen und erkennen, dass wir alle in unserer Verschiedenheit gleich sind.«
Zur Autorin: Ingrid Schütz ist Lehrerin für Englisch und Philosophie und unterrichtet an der Emil Molt Akademie in Berlin.
Website der Schule: http://tinyurl.com/m6vsr9k
bei facebook: http://tinyurl.com/mwtmzjy