In Bewegung

»Eine wärmende Flamme«. Die Waldorfschule Schaffhausen

Iru Mun

Als ich an einem Morgen das Schulgebäude betrete, begegne ich einem Jungen, der mich sofort einlädt, mit in sein Klassenzimmer zu kommen. Als ich das Zimmer betrete, sind einige Kinder noch beim Frühstück, zwei Mädchen spielen auf einer Gitarre und andere unterhalten sich auf dem Fußboden sitzend mit Mikael Marmo, dem Klassenlehrer der zweiten Klasse. Sofort bildet sich eine Traube von Kindern um mich herum. Sie wollen wissen, wie ich heiße, welche Sprachen ich sprechen kann, ob ich am Vortag auch das Martinsfest gefeiert habe und was der Grund für meinen Besuch ist. Ohne Mühe wechseln sie vom Schwyzerdütsch ins Hochdeutsche, als sie merken, dass ich ihren Fragen nur bedingt folgen kann. Da die Pause gerade beginnt, führen sie mich mit auf ihren Schulhof. Zwei Kinder laden mich in ihr Baumhaus ein, in dem sie sich ein gemütliches Lager aus Decken und Kissen eingerichtet haben. »Hier ruhen wir uns aus, wenn wir müde sind«, erklärt mir das Mädchen. Dann entdecken die beiden Kinder ein Eichhörnchen und ihre ganze Aufmerksamkeit fokussiert sich nun auf den Baum, in dem das Tier von Ast zu Ast springt. Auch die anderen Zweitklässler:innen unterbrechen ihr Spiel, um staunend das Eichhörnchen zu betrachten.

Nach und nach kommen auch die restlichen Kinder der insgesamt vier Klassen auf den Schulhof. Einige fragen mich, ob ich sie nach der Pause in ihrem Klassenraum besuchen wolle. Sie würden mir dann den Raum, ihre Sitzplätze und all das, was sie schon gelernt haben, zeigen.

Die Idylle, die mir bereits beim Betreten des Schulhauses begegnete, hat mich nicht getrogen. Auch während der Pause spielen alle Kinder gemeinsam miteinander. Es erscheint mir, als seien die 30 Kinder mit ihren drei Klassenlehrer:innen wie eine große Familie – im Mittelpunkt steht die gemeinsame Lebensgestaltung als Grundlage für eine gesunde Vertiefung von Beziehungen. Eine weitere Besonderheit der Schule ist, dass die Kinder sich während der Pausenzeiten frei auf dem Gelände und im Haus bewegen dürfen. Eine klassische Pausenaufsicht, wie ich sie aus meiner eigenen Lehrertätigkeit kenne, wird hier nicht praktiziert. Und dennoch scheint es, dass die Lehrkräfterer immer genau wissen, wo sich ihre Schüler gerade aufhalten. Die Lehrer:innen holen die Kinder ab, wenn es weitergeht – eine Schulglocke gibt es nicht. Möglicherweise ist gerade diese freilassende Haltung, die die Lehrkräfte er mit den Kindern leben, der Grund dafür, dass ich während der Pause drei Viertklässlerinnen in ihrem Klassenraum dabei antreffe, wie sie ganz in ihre Tätigkeit versunken ein Tafelbild gestalten. Ein anderes Kind hat sich in einem Klassenzimmer auf einem Kissen ausgestreckt und erklärt mir, dass es sich kurz ausruhen müsse.

Schule als Lebensort ist hier zur Realität geworden. Im Gespräch mit den Lehrer:innen wird jedoch deutlich, dass man sich diese Harmonie immer wieder mit großer Wachheit und Offenheit, pädagogischer Vertiefung und gegenseitiger Achtsamkeit erarbeiten müsse. An dieser Schule wird das pädagogische Grundmotiv – das Kind im Mittelpunkt – aktiv gelebt und vorgelebt. 

Die Schule wurde durch eine Elterninitiative gegründet. Die Eltern haben in ihrer Freizeit monatelang die Schule renoviert und gestaltet, bevor es 2017 mit einer Kindergartengruppe losgehen konnte – im Jahr darauf wurde die erste Klasse eingeschult. Mittlerweile sind es vier Klassen, wobei die dritte und vierte Klasse gemeinsam in einem Raum von Gabriele Ruehl, der Gründungslehrerin, unterrichtet werden. Zu Schule und Kindergarten ist in der Zwischenzeit noch eine Spielgruppe hinzugekommen. Auf Einladung der Kinder darf ich in allen Klassen zu Gast sein. Auch hier setzt sich fort, was ich auf dem Pausenhof wahrgenommen habe: Eine gegenseitige Achtsamkeit, die durch die selbstverständliche Leichtigkeit der Kinder vitalisierend wirkt, beschreibt wohl am besten, was ich in den folgenden Unterrichtsstunden erleben darf. Eine Erstklässlerin schenkt mir am Ende der Unterrichtsstunde ein selbstgemaltes Bild: »Das hab’ ich für Dich gemalt«, sagt sie und übergibt mir eine mit einem Wollfaden zusammengebundene Papierrolle. Der gemalte Luftballon in Herzform rührt mich und wir strahlen uns an. Da heute Freitag ist, nehmen mich die Kinder nach dem Unterricht mit in den Saal. Dort angekommen, führen mich die Kinder in den Kreis und gemeinsam verabschiedet sich die Schulgemeinschaft mit Liedern und Sprüchen in das Wochenende. Mein Vortrag für die Schulgemeinschaft ist für 13 Uhr angekündigt worden, doch an diesem Tag haben die Eltern für alle gekocht: es gibt Kürbissuppe, selbstgebackenes Brot, Butter, Käse und Nudeln. Mein Vortrag, in dem es um die Grundmotive einer gesundheitsfördernden Erziehung und Lebensführung gehen wird, beginnt etwas später – nach dem Essen. Auch hier wird die menschliche Wärme wieder deutlich: Wie in einer echten Familie sitze ich mit einem Kind aus der ersten Klasse, dessen Geschwisterchen aus dem Kindergarten und zwei Kindern aus der vierten Klasse an einem Tisch und die Unterhaltung verläuft lebhaft. Auch der Nachbartisch, an dem sich Kinder mit Erwachsenen mischen, klinkt sich in die Unterhaltung ein. »Dass wir alle in dieser Runde gemeinsam miteinander essen, passiert zum ersten Mal. Das werden wir sicherlich nun häufiger machen«, bemerkt Nikolai Bonstedt, Musiklehrer und Klassenlehrer der ersten Klasse. Wie stark sich die Eltern mit ihrer Schule verbunden fühlen, wird in der auf meinen Vortrag folgenden Gesprächsrunde wahrnehmbar. Die Schule sei für sie und ihre Familien ein Lebensraum, den sie mitgestalteten und für den sie sich verantwortlich fühlten, berichten die Eltern. Natürlich gäbe es auch immer mal wieder Phasen, in denen man mit der Selbstverwaltungsarbeit an seine Grenzen komme. Man habe dann aber stets das Gefühl, von den anderen Eltern mitgetragen zu werden. Obwohl manches auf dem Schulgelände auf den ersten Blick noch provisorisch wirkt, ergibt sich doch durch die zufriedenen Kinder das Bild eines harmonischen Ganzen: sie fühlen sich hier beheimatet. Auch tragen die schönen Klassenzimmer in der alten gelben Villa zum Wärme­gefühl bei. »Wir haben zwar nicht viel, doch das, was wir haben, reicht uns vollkommen.

Wir haben nicht das Gefühl, dass uns etwas fehlt. Wir sind zufrieden«, bringt es Gabriele Ruehl auf den Punkt. »In unserem Unterricht sollen die schöpferischen Gestaltungs- und Phantasiekräfte der Kinder einen großen Raum einnehmen dürfen – das ist einfacher, wenn man sie nicht mit zu viel fertigem Material überlädt.«
Ich bin mit der Vorstellung nach Schaffhausen gekommen, dass dort Hilfe benötigt wird, stattdessen offen­bart sich mir an diesem Ort Herzensreichtum, Zufriedenheit und Ausgeglichenheit bei den Eltern, den Lehrern und dadurch auch bei den Kindern. »Zwar gibt es immer viel zu tun und durch die finanzielle Belastung, die eine Schulgründung mit sich bringt, müssen wir uns jede Neuanschaffung genau überlegen. Es sind jedoch Aufgaben, die wir auch weiterhin aus eigener Kraft schaffen möchten«, versichert Gabriele Ruehl.

Für den Musikunterricht würde sich Nikolai Bonstedt über Sachspenden freuen: »Besonders Streichinstrumente, die in einem guten Zustand sind, werden benötigt. Diese können wir mit unseren finanziellen Mitteln nicht anschaffen.« Auch möchte der Musiklehrer im Laufe der Zeit das audiopädische Instrumentarium nach und nach erweitern. Sicherlich wären hierbei Geldspenden hilfreich.

Während ich im Zug auf der Heimfahrt die heutigen Erlebnisse in mir nachwirken lasse, wird mir bewusst, dass jede Gemeinschaft, die das Sozial-Mitmenschliche und das Wohl der Kinder in den Mittelpunkt ihres Denkens, Fühlens und Handelns stellt, wie ein Leuchtfeuer der Menschlichkeit wirkt und wirksam ist. Die Waldorfschule Schaffhausen lebt es vor: Hier lebt Waldorfpädagogik als eine wärmende Flamme – hier steht das Kind im Mittelpunkt.

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.