Einkommen zum Weiterkommen

Henning Kullak-Ublick

Waldorfschulen mangelt es selten an Ideen, was dringend getan werden müsste und getan werden könnte, um mit neuen gesellschaftlichen Herausforderungen pädagogisch, pragmatisch und künstlerisch umzugehen. Und glücklicherweise gibt es viele herzerfrischende Initiativen, die genau das tun. Aber dennoch: Manch eine Idee, die längst zum waldorfpädagogischen Grundkonsens gehört, wird nur halbherzig oder gar nicht umgesetzt, weil sie an der Einkommensfrage scheitert. Wie oft bestimmen die zusammengezählten Deputatsstunden über die Stundenpläne im kommenden Schuljahr, weil sie zugleich über die Existenz der Lehrer und Lehrerinnen bestimmen? Wie viele Ideen zur Neugestaltung der Stunden- oder Epochenpläne werden nur deshalb nicht umgesetzt, weil sie diese stundenweise Abrechnung durcheinander bringen würden? Wie viele Ideen für das Lernen in der Mittelstufe bleiben auf der Strecke, weil sie personelle Umstrukturierungen bedeuten würden? Wie oft werden weniger prüfungsrelevante Fächer zurückgefahren, um Geld zu sparen, wie oft aus dem gleichen Grund neue Ideen schon im Keim erstickt?

Deutschland …

… gibt etwas mehr als fünf Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für Bildung aus. Obwohl wir damit unter dem OECD-Durchschnitt von etwas über sechs Prozent liegen, haben deutsche Lehrer ein höheres Durchschnitts-Einkommen als ihre Kollegen in den meisten anderen OECD-Ländern. Bei Waldorflehrern liegt die Sache etwas anders. Ihr Einkommen regelt eine schuleigene Gehaltsordnung. Es bewegt sich zwischen 75 und 97 Prozent der vergleichbaren Gehälter an staatlichen Schulen.

Die Frage, was man an einer Waldorfschule »verdient«, lässt sich also nicht mit einer einfachen Zahl beantworten. Eine Einkommensordnung ist immer ein Ausgleich zwischen dem, was der Einzelne braucht und dem, was die Gemeinschaft dafür zur Verfügung stellt. Es gibt daher auch nicht die »eine« Lösung, mit der alle zufrieden sind. Aber es gibt Gesichtspunkte, die helfen können, Verabredungen zu treffen, die als gerecht empfunden werden.

Geld …

… ermöglicht. Im Unterschied zu einem Tauschgeschäft – fünf Brote gegen ein Paar Schuhe – kann, wer es besitzt, die unterschiedlichsten Waren oder Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Er bleibt also frei, damit zu tun, was er will. Geld ist auch eine Option auf die Zukunft: Wer investiert, lässt Ideen, deren Wirkung erst später sichtbar wird, wirksam werden. Der Weg der Menschheit von der Selbst­versorgung über die Arbeitsteilung bis zur technisch gestützten, globalisierten Produktivität ist verbunden mit der zunehmenden Trennung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Menschen. Entsprechend entwickelte sich das Gutscheinsystem »Geld«, das heute anstelle des Gütertausches und über den Preis einen Großteil der sozialen Beziehungen der Menschen regelt.

Einkommen …

… ist in einer Gesellschaft, in welcher der Einzelne fast immer von den Waren oder Dienstleistungen anderer lebt, ein Austausch von Leistungen. Im Unterschied zu einer Selbstversorger- und Tauschgesellschaft produzieren wir in der arbeitsteiligen Gesellschaft für andere, die uns dafür Gutscheine in Form von Geld zur Verfügung stellen, mit denen wir wiederum die Leistungen anderer in Anspruch nehmen können. Der Preis regelt die Beziehungen, in denen die Menschen zueinander stehen. Ob er als gerecht oder ungerecht empfunden wird, hängt in hohem Maße davon ab, ob er (Zusammen-)Arbeit ermöglicht oder Abhängigkeitsverhältnisse schafft.

Teilungsverhältnisse

Wenn Deutschland ein Zwanzigstel des Bruttosozialprodukts für Bildung ausgibt, ist das ein Teilungsverhältnis im Großen: Aus der Gesamtheit dessen, was hierzulande erwirtschaftet wird, sind wir bereit, genau diesen Teil in die Bildung zu investieren. Natürlich ergibt sich diese Summe aus zahlreichen Einzelentscheidungen, aber dennoch markiert sie den Wert, den unsere Gesellschaft der Bildung zuspricht. Für die einzelne Einrichtung, also beispielsweise eine Schule ergibt sich daraus ein Gesamtbudget, das sich aus Beiträgen, Schülerzahlen, staatlichen Finanzhilfen und Spenden zusammensetzt. Sie arbeitet also mit dem, was ihr von der Gesellschaft, der sie angehört, zugeteilt wird: Welchen Preis ist die Gesellschaft bereit, für die Leistung der in der Schule tätigen Menschen zu erbringen? Wie viel können – und wollen – Eltern an Schulgeld bezahlen? Hier ist politisches Engagement gefragt, um die freien Schulen finanziell nicht länger als minderwertigen »Ersatz« zu behandeln.

Das zweite Teilungsverhältnis regelt innerhalb des Gesamtbudgets der Schule, dem »Ganzen der Einrichtung«, die Aufteilung zwischen den institutionellen (Sach-)Kosten und den individuellen Bedürfnissen, also den Einkommen.

Das dritte Teilungsverhältnis bestimmt die Gehälter der einzelnen Mitarbeiter. Es bestimmt sich wesentlich aus dem Wert, den eine Schulgemeinschaft den rechtlichen, geistigen und wirtschaftlichen Verhältnissen der in ihr tätigen Menschen beimisst.

Gehälter

• Das einheitliche Grundgehalt stellt sicher, dass alle Mitarbeiter mit einer vollen Stelle eine gesicherte Basis haben, die ihnen ermöglicht, die Aufgaben wahrzunehmen, die sich aus ihrer Arbeit ergeben, ohne sich noch anderswo um Einkünfte bemühen zu müssen. Hier gilt: Gleiches Recht für alle.

• Anders steht es mit der Leistung des Einzelnen, in die der Umfang der Verantwortung, die jemand für die Schule übernimmt, ebenso eingehen kann wie die Dauer und Qualität der Ausbildung. Hier handelt es sich um Zusprachen, welche die Gemeinschaft dem Einzelnen macht, um die unternehmerische Mitverantwortung für das Ganze zu würdigen. Nicht gemeint sind hier Kopierstunden oder Sitzungsgelder für Konferenzteilnahmen, sondern überdurchschnittlich viele Koordinationsaufgaben, Abend- oder Wochenendtermine.

• Ein dritter Bereich ist der wirtschaftliche Bedarf des Einzelnen. Wieder bedarf es einer Verabredung, also eines Ausgleichs der Interessen, wie weit die Familienverhältnisse oder andere soziale Verpflichtungen dabei berücksichtigt werden. Hier sind nicht der Gleichheitsgrundsatz des Grundgehaltes oder die individuelle Leistung maßgeblich, sondern das solidarische Miteinander der Gemeinschaft.

Für alle drei Bereiche muss es eine Rahmenvereinbarung geben. Die Entscheidung im Einzelfall sollte aber im Sinne des Vertrauensschutzes delegiert werden.

Die Schule als Ganzes

Eine entscheidende Frage für die Gehaltsordnung einer Schule ist das Selbstverständnis der Mitarbeiter gegenüber dem Ganzen. Es ist etwas völlig anderes, ob sich eine Schule als aus lauter Spezialisten für bestimmte Aufgaben bestehend versteht oder als Unternehmen, in dem jeder für das Ganze tut, was er kann. Ersteres führt fast zwangsläufig zu einer immer feiner ausziselierten Deputatsordnung, in der jede noch so kleine Tätigkeit irgendwann berücksichtigt werden muss, während das unternehmerische Selbstverständnis sehr viel durchlässiger auf das Gelingen des Ganzen blickt und dafür sorgt, dass jeder seinen Beitrag geben kann. Letzteres bietet die Chance, Verantwortungskreise zu bilden, die sich beispielsweise um eine Klasse kümmern, ohne dabei jede Unterrichtsstunde zu zählen, Aufgaben in der Selbstverwaltung zu übernehmen und dafür Entlastungen zugesprochen zu bekommen oder sogar für schulübergreifende Aufgaben freigestellt zu werden, weil sich die Schule mitverantwortlich für die Entwicklung eines erweitert gedachten sozialen Organismus fühlt.

Die Unterscheidung der drei Einkommensformen in ein für alle geltendes Grundgehalt, in einen leistungs- oder verantwortungsbezogenen Einkommensanteil und in ein Sozialeinkommen, das die individuellen Verpflichtungen berück- sichtigt, kann man jeweils den rechtlichen, geistigen und wirtschaftlichen Tätigkeitsfeldern zuordnen, innerhalb derer sich jeder Mensch bewegt: Das Grundgehalt entspricht dem Grundsatz »gleiches Recht für alle«, in der Zusprache von leistungsbezogenen Einkommensanteilen werden geistige Individualleistungen berücksichtigt, im Sozialeinkommen schließlich wirtschaftliche Notwendigkeiten der einzelnen Mitarbeiter.

Die Selbstverwaltung und der Unterricht gehören an einer Waldorfschule zusammen. Nicht jeder muss alles machen, aber es ist eine gegliederte Einheit, die sich an der gemeinsamen Aufgabe orientiert. So können Deputats-Korridore mit variablen Stundenzahlen Freiräume im Stundenplan schaffen und die Übernahme von Aufgaben in der Schulverwaltung, wenn in einem Jahr nicht die reguläre volle Stundenzahl erreicht wird, kann helfen, flexibler auf den Bedarf der Schüler einzugehen.

Wenn es gelingt, die gemeinsame Arbeit am pädagogischen Auftrag in den Mittelpunkt der Beratungen zur Gehaltsordnung zu stellen, verstärken sich die sozialen Beziehungen und die pädagogischen Ziele der Schule gegenseitig, statt sich im Weg zu stehen. Es gibt kein System, welches diese Gesichtspunkte ein für allemal befriedigend regeln könnte. Vielmehr geht es darum, dass eine Schulgemeinschaft ein Grundverständnis der eigenen Arbeit findet, das Kräfte für die tatsächlichen Aufgaben freisetzt. Das wird alle paar Jahre neu austariert werden müssen.

Nachbemerkung: Wesentliche Gesichtspunkte dieser Darstellung verdanke ich einem Gespräch mit Dr. Michael Ross, dem Leiter der Stiftung »Wege zur Qualität« in Deutschland.