Elternstudie: Verzerrter Wettbewerb

Erziehungskunst | Herr Barz, Eltern geben eindeutig der individuellen und kreativen Förderung ihrer Kinder und einer vielfältigen humanistischen Bildung den Vorrang vor Tests, Leistungsnachweisen und Vorbereitung auf den Beruf. Deutet sich hier ein Paradigmenwechsel, was Eltern von Schule erwarten, an?

Heiner Barz | Ich glaube, Eltern legen nicht erst neuerdings Wert darauf, dass ihre Kinder das nötige Rüstzeug fürs Leben bekommen. Dass dazu vor allem auch Softskills wie Leistungsbereitschaft, Ausdauer, Selbstvertrauen, Augenmaß, Teamfähigkeit gehören, ist eigentlich selbstverständlich. Und diese Dinge lernt man eben besonders nachhaltig in künstlerischen Projekten, zum Beispiel durch Tanz oder Theaterspielen. 

Durch das deutlich intensivierte Prüfen und Testen an den Schulen ist inzwischen aber wohl bei vielen Eltern der Eindruck entstanden, dass Aspekte der nachhaltigen Per-­sönlichkeitsstärkung zugunsten eines kurzatmigen Bulimie- Lernens in den Hintergrund getreten sind.

EK | Ein weiterer Befund scheint diesen Trend zu erhärten: Eltern fordern von der Schule zuallererst, dass ihre Kinder darin gefördert werden, eine selbstbewusste Persönlichkeit zu entwickeln. Warum sollen das besonders praktische, künstlerische und musische Fertigkeiten leisten?

HB | Studien zur kulturellen Bildung zeigen immer wieder, dass gerade zum Beispiel auch Schüler, die in den intellektuell anspruchsvollen Fächern manchmal Schwierigkeiten haben, in Projektkontexten, wo eher Handwerkliches, Musik, Bildende Kunst oder Schauspiel im Vordergrund stehen, regelrecht aufblühen können. Weil hier eben andere als isolierte kognitive Fähigkeiten gefragt sind und gefördert werden.

EK | Die Qualität der Schulen würde durch einen stärkeren pädagogischen Wettbewerb zwischen den Schulen zunehmen. – Bestehen diese Wettbewerbsmöglichkeiten – sogar grundgesetzlich garantiert – nicht schon heute?

HB | Wettbewerb zwischen unterschiedlichen pädagogischen Konzepten – sicher. Aber dieser Wettbewerb ist heute verzerrt dadurch, dass Schulen in freier Trägerschaft im Vergleich zu den Schulen in staatlicher Trägerschaft nur rund zwei Drittel der finanziellen Mittel zur Verfügung haben – und das restliche Drittel durch effizientes Wirtschaften, durch Selbstausbeutung der Lehrkräfte und durch Schulgeld, das die Eltern zahlen, aufbringen müssen. Auch beobachten wir in den letzten Jahren eine eher restriktive Genehmigungspraxis, was innovative Konzepte von freien Schulen betrifft.

EK | Die Schulen sollen sich stärker nach den Schülerbedürfnissen anstatt nach den Vorgaben von Schulbehörden ausrichten. Führt diese Forderung der Eltern nicht zu einem Ausverkauf des schulischen Bildungsauftrags, zu beliebigen Bildungsinhalten und Lehrplänen?

HB | Das hängt wahrscheinlich davon ab, was man unter Schülerbedürfnissen versteht. Wenn damit gemeint ist, rund um die Uhr Nutella-Brote oder Burger zu futtern und am Handy zu daddeln, dann … Aber wahrscheinlich muss man hier von einem irgendwie anthropologisch und entwicklungspsychologisch fundierten Begriff von Interesse und Bedürfnis ausgehen. Also zum Beispiel auch altersspezifische Sensibilitäten und Auffassungsgaben berücksichtigen, wie das ja die großen reformpädagogischen Konzepte von Maria Montessori und Rudolf Steiner in jeweils eigener Weise tun. Die Waldorfpädagogik zum Beispiel hat ja auf dieser Basis durchaus recht genaue Vorstellungen und Vorgaben, was in welchem Alter im Unterricht behandelt werden soll.

EK | Überraschend: Auch Eltern von staatlichen Schulen wünschen sich eine finanzielle Gleichstellung der Schulformen. Warum und welche Folgen hätte diese Gleichstellung?

HB | Es gäbe dann eine wirkliche Wahlfreiheit hinsichtlich des Schulmodells, weil finanzielle Aspekte keine Rolle bei der Überlegung spielen würden, welches Schulprogramm eventuell am besten zu meinem Kind passt.

EK | Anscheinend lässt die Umsetzung der UN-Konvention noch zu wünschen übrig, das heißt, der gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne Förderbedarf kommt nur schleppend in Gang. Liegt das womöglich an den notwendigen Zusatzkosten – die durch das »Sparmodell Inklusion« gerade nicht entstehen sollten?

HB | Das kann man so sehen. Denn die notwendigen zusätzlichen Personalstellen für Inklusionshelfer, Schulbegleiter und Sonderpädagogen und die wichtige Vorbereitung der Lehrkräfte durch einschlägige Weiterbildungen sind natürlich nicht kostenneutral zu haben.

EK | Auch in puncto Digitalisierung scheinen Eltern dem politischen Mainstream zu widersprechen: Über 80 Prozent wollen eine computerfreie Grundschulzeit und ein Handyverbot in der Schule. – Wie kommt es zu solch unterschiedlichen Einschätzungen?

HB | Das Smartphone ist heute zu einem fast unersetzlichen Begleiter in fast allen Lebenszusammenhängen geworden. Es aus pädagogischen Zusammenhängen ganz zu verbannen ist dementsprechend ein Kraftakt, der auch viele Gegner hat. Dazu gehören nicht nur viele »digital natives« oder die IT-Lobby; zu denen, die sagen, dass man einen bewussten Umgang in der Schule vermitteln und über die Risiken früh informieren sollte, gehört auch ein Teil der Medienpädagogen.

Andererseits kennen viele Eltern, Lehrer und Lehrerinnen das Handy als Ablenkungsquelle und Unruhe-Garant – und dementsprechend erhoffen sich 85 Prozent der Eltern in der aktuellen Elternstudie von einem Handyverbot nach französischem Vorbild einen konzentrierteren Unterricht. Und vielleicht sogar auch eine gewisse Entspannung an der familieninternen Bildschirm-Kampffront, weil man dann mit einer sozusagen schulpädagogisch beglaubigten Argumentation in der alltäglichen Auseinandersetzung um Bildschirmzeiten aufrüsten könnte.

EK | Welche Konsequenzen haben die Studienergebnisse für die deutsche Bildungspolitik?

HB | Um realistisch zu bleiben. Ich fürchte: keine. Zumindest nicht direkt und nicht konkret greifbar. Aber für die bildungspolitische Argumentation von Verbänden und den Flügeln der politischen Parteien, die den Schulen in freier Trägerschaft mit einer gewissen Sympathie gegenüberstehen, liefert das Votum der Eltern aus Deutschland doch eine solide empirisch erhärtete Basis.

Die Fragen stellte Mathias Maurer.