Kognitionspsychologen meinten lange Zeit, solche Urteile bestätigen zu können. In Lernexperimenten zeigte sich, dass Versuchspersonen das meiste schon nach wenigen Stunden und fast alles nach mehreren Tagen vergessen hatten. Seit man in den 1990er Jahren im Rahmen von Langzeitstudien das Behalten schulischen Wissens eingehender untersuchte, kam man jedoch zu völlig anderen Ergebnissen: Ein großer Teil des sicher gelernten Wissens konnte noch Jahrzehnte später unter geeigneten Bedingungen reproduziert werden. Das meiste Wissen geht in den ersten Jahren »verloren«. Dann bleibt es weitgehend konstant.
Ein Teil der Diskrepanz zu den eingangs geschilderten Erfahrungen hat mit den Umständen des Erinnerns zu tun: Am schwersten fällt die freie Wiedergabe von Faktenwissen. Bereits geringfügige »Denkanstöße« verbessern jedoch das Ergebnis erheblich. Und bei reinen Wiedererkennungsleistungen zeigten die Versuchspersonen ein geradezu perfektes Erinnerungsvermögen. All das ist uns nun vertraut. Schon die Erwähnung bestimmter Stichworte erweckt in uns jenes berühmte »Da war doch was …« und jeder hat wohl schon die Erfahrung gemacht, Gesichter oder Orte wiederzuerkennen, an die er jahrzehntelang nicht gedacht hat.
Doch auch die Art des Lernens und im Zusammenhang damit die Gedächtnisbildung spielen eine entscheidende Rolle. Viele Psychologen unterscheiden drei Formen des Gedächtnisses: das sensorische Gedächtnis, das Kurzzeitgedächtnis und das Langzeitgedächtnis.
Das sensorische Gedächtnis erlaubt es uns, noch innerhalb von Sekunden Ereignisse zu erinnern, die wir zunächst nicht beachtet hatten. Schlägt eine Kirchenglocke, ohne dass wir ihr Aufmerksamkeit schenken, können wir die Anzahl der Glockenklänge kurz darauf auf eine Frage hin noch nachzählen.
Im Kurzzeitgedächtnis halten wir im Sekunden- bis Minutenbereich das Wissen bereit, das im aktuellen Handlungszusammenhang relevant ist.
Der steinige Pfad ins Langzeitgedächtnis
Unser Langzeitgedächtnis ist hingegen in seiner Speicherkapazität und auch hinsichtlich seiner Speicherdauer geradezu gigantisch.
Das Problem beim schulischen Lernen besteht darin, dass das im Unterricht zu vermittelnde Wissen einen engen und steinigen Pfad zurücklegen muss, um in die Schatzkammer des Langzeitgedächtnisses zu gelangen. Vieles schafft bereits den Sprung aus dem sensorischen in das Kurzzeitgedächtnis nicht. Hierfür muss es vor allem aufmerksam wahrgenommen werden.
Die Aufmerksamkeit erwecken kann man besonders mit Unterrichtsmethoden, die die Schüler zu eigener Aktivität anregen und zu Mitgestaltern ihres Lernprozesses machen, aber auch durch eine spannende Vermittlung des Unterrichtsstoffes in einer positiven Lernatmosphäre. Nicht weniger schwierig gestaltet sich der Übergang aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis. Neben der emotionalen Bedeutsamkeit des Gelernten spielt hier hinreichendes Üben und Wiederholen in immer neuen Zusammenhängen eine Rolle, die es gestattet, das neue Wissen mit vorhandenem zu verknüpfen.
Eben das erklärt auch den eingangs genannten Unterschied zwischen psychologischen Laboruntersuchungen und schulischen Lernprozessen. Erstere beschäftigten sich lange Zeit nur etwa mit dem Lernen sinnloser Silben. Letztere hingegen bemühen sich, den Stoff bedeutsam zu machen und es mit anderem Wissen zu verknüpfen.
Eben gelernt und schon vergessen
Solche Erkenntnisse stellen viele Methoden in Frage, die den Lehrern lieb geworden sind. Die im Fremdsprachenunterricht beliebten (angekündigten) Vokabeltests zu Anfang der Unterrichtsstunde gehen oft völlig am Langzeitgedächtnis vorbei. Viele Schüler »pauken« die Übersetzungen in der Pause in ihr Kurzzeitgedächtnis – und vergessen sie wieder. Zudem vermeidet die einfache Zuordnung eines fremdsprachlichen zu einem deutschen Wort eben jene für das Langzeitgedächtnis so wichtige Wissensverknüpfung. Wenn Schüler also nach längerer Zeit tatsächlich »nichts« mehr wissen, wurde das diesen Theorien zufolge einfach nicht richtig gelernt, wurde also noch nie wirklich gewusst.
Und wie sieht es mit dem eingangs erwähnten Epochenunterricht aus? Zwar scheint es im Licht dieser Erkenntnisse ausgesprochen sinnvoll zu sein, dass er von Tag zu Tag das Langzeitgedächtnis durch Wiederholung in immer neuen Sinnzusammenhängen festigt. Doch folgt nicht dieser intensiven Lernphase oftmals ein ganzes Jahr des Vergessens? Was hier zunächst als Manko des Epochenunterrichtes erscheint, sieht Rudolf Steiner ganz im Gegenteil als einen seiner Vorzüge: Das Gelernte soll im Vergessen »einschlafen«, um in der folgenden Epoche in verwandelter Form erinnert zu »erwachen«. Für eine solche sinnstiftende Funktion des Vergessens gibt es in der Lernforschung wichtige Anhaltspunkte. Längst ist bekannt, dass es uns das Vergessen erlaubt, Bedeutsames von weniger Bedeutsamem zu trennen. Vergessen scheint also ein aktiver und sinnvoller Prozess unseres Seelenlebens zu sein. Doch schlägt sich all das noch kaum in der aktuellen Forschung nieder, die das Vergessen fast ausschließlich als eine Leistungsbegrenzung unseres Gehirns versteht.