Immer früher und immer ausgedehnter: Seit etwa zwanzig Jahren geht der Trend dahin, den alltäglichen Schulablauf durch besondere Unternehmungen zu unterbrechen. Und dies immer früher und immer ausgedehnter.
Ein Tagesausflug in die nähere Umgebung bedeutete einst einen Höhepunkt im ganzen Schuljahr. Schullandheim-Aufenthalte über eine Woche am Ende der achten Klasse oder in der zwölften Klasse waren Glanzlichter der ganzen Schulzeit. Heute sind sie ab der vierten Klasse Programm, die Oberstufe führt Praktika in der Landwirtschaft, in Betrieben und sozialen Einrichtungen durch, Exkursionen, Bildungsreisen, Hilfsaktionen über mehrere Wochen und über die ganze Welt hinweg.
Für den Epochenunterricht an der Oberstufe der Waldorfschule hat das Folgen. Die pädagogisch sinnvolle Länge von vier Wochen für eine Epoche wird zum seltenen Glücksfall, Kurzepochen häufen sich, unterbrochen von Festen aller Art und schließlich verkürzt durch den freien Samstag, der den Erlebnisraum der Kinder und Jugendlichen auf seine Weise erweitert.
Die Wirkung des Besonderen lässt schnell nach. Es weckt Überdruss, wenn es zu häufig stattfindet, zum Normalen wird.
Und was geschieht dann im sonst Alltäglichen? Was in einer normalen Geschichtsepoche? In einer Englisch-Stunde?
Was heißt »Erleben«?
Fragen wir nach der Bedeutung von »Erlebnispädagogik«, einem Begriff, der für pädagogische »Projekte« vom einfachen Anschauungsunterricht bis zur Weltumseglung eingesetzt wird.
Zunächst einmal: Was macht »Leben« zum »Erleben«? Von der Wortgeschichte her ist »Erlebnis« aktives Leben, ein Nach-außen-Leben. Oder auch: durch das Erlebnis macht der Mensch etwas aus seinem Leben. Heute aber hat
»Erlebnis« mehr den Charakter, dass etwas auf den Menschen zukommt, von außen nach innen wirkt.
Extreme prägen das Leben in den modernen Gesellschaften in immer stärkerem Maße. Rasche Folge und Intensität der »Sensationen« nehmen enorm zu. Wer sich an die Klagen der Pädagogen Ende der 1950er Jahre erinnert, die von Reizüberflutung durch Reklame, Illustrierte, Radio und durch den Krach von Boogie-Woogie und Rock ’n’ Roll gesprochen haben, dem erscheint das höchst harmlos, verglichen mit dem, was heute an Erlebnissen von außen angeboten und gesucht wird.
Ähnliches kann man an dem beobachten, was als Äußerung gelebt wird. Selbsterfahrungen im Grenzbereich des Leistbaren, Ertragbaren, Gewalttätigen werden zu Massenbewegungen, zum Beispiel wenn Hunderttausende Marathon rennen.
Die Ursachen für solche Phänomene liegen zunächst im Erlebnismangel oder sogar in der Erlebnisleere des »normalen« Lebens. Doch was sind die Voraussetzungen,um etwas erleben zu können? Damit sind wir im Bereich der Pädagogik, der Fähigkeitsbildung.
Einige Bedingungen des Erlebens
Hier geht es darum, wie die Beziehung von Mensch und Welt sich gestaltet. Dieses Verhältnis spielt sich nicht in einem bestimmten »Zustand« ab, sondern in einem rhythmischen Schwingen von innen nach außen und von außen nach innen. Wir leben im Wechsel von Aufnehmen und Abgeben, von Einatmen und Ausatmen, von Einschlafen und Aufwachen, von Hingabe und Abwehr. All das sind die leiblichen, seelischen und geistigen Grundlagen für unser Erleben.
Und hierzu lassen sich einige Grundsätze aufstellen:
- Die Bewegungen zwischen Mensch und Welt müssen gelernt, ausgebildet werden, und das vom Beginn der Biographie an.
- Sie sind ein Gleichgewichtsphänomen; jede Einseitigkeit führt zu Störungen des Lebens, zu Krankheiten.
- In diesem Pendelschlag braucht und sucht der Mensch den Wechsel von geringerer und stärkerer Bewegung.
Man kann im Erziehungsprozess den Blick auf vier verschiedene Aspekte richten, die zusammen wirksam sind und sich im Laufe des Lebens verschieben.
1 Es gibt die subjektive Seite des Erlebens durch den Heranwachsenden, also die Fähigkeit, die Außenwelt wahrzunehmen, sich auf etwas einzulassen, bei der Sache zu bleiben. Das bildet sich durch Wiederholung, Übung, »Verdauung«.
2 Die objektive Seite betrifft die Art der Weltinhalte. So wie zum Beispiel Nahrungsmittel gesund oder krank machen können, haben seelische und geistige Eindrücke ihre positive oder negative Wirkung, sie prägen die Erlebnisfähigkeit.
3 Von größter Bedeutung für diese Prägung sind die Menschen in der Umgebung, die Eltern, Erzieher und Lehrer. Sie bestimmen und formen durch ihr Dasein und ihr Handeln die Art und Weise, wie sich das Erleben der Kinder entwickelt. Das ist die objektive Seite im Wirken der Erwachsenen.
4 Die subjektive Seite in diesem Zusammenspiel ist das methodische Bewusstsein und Handeln des Erziehenden, durch das Form und Inhalt der Erlebnisse gestaltet werden, und zwar bei ihnen selbst ebenso wie bei den Kindern.
Diese vier Aspekte sind im heutigen Erziehungswesen fragwürdig geworden. Unterricht soll »fit machen« für bestimmte Berufsaufgaben. Berechtigungen für die weitere Ausbildung und damit für den sozialen Status bestimmen die Motivation des Lernens. Die Inhalte sind vor allem bestimmt durch das, was »gebraucht« wird. Die Rolle des erwachsenen »Vermittlers« tritt immer mehr in den Hintergrund, er ist »Fachmann« und Organisator.
Die Problematik der Situation spiegelt sich in den Diskussionen um die PISA-Ergebnisse, um Normierungen und Modularisierungen vom Kindergarten bis zu den Hochschulen. Und allmählich regt sich von der Basis der Schüler, Studenten, Lehrer und Eltern her mehr und mehr Widerstand. Wie vor einem Jahrhundert wird die Forderung nach einem Paradigmenwechsel laut, soll Schule kindgerecht, jugendgemäß, menschlicher und sozialer gestaltet werden.
Reformpädagogik kultiviert schon seit langem das Erleben
Die Waldorfschulen und andere Reformschulen praktizieren seit einem Jahrhundert die verschiedensten Ansätze einer »Erlebnispädagogik«. Die Ergänzung der intellektuellen Bildung durch handwerkliche, künstlerische, gemeinschaftsbildende Tätigkeiten waren ein wesentliches Merkmal. Gerade diese Elemente haben sich als fruchtbar für die Entwicklung des jungen Menschen erwiesen, weil sie ihn in all seinen Lebensäußerungen und Erlebnismöglichkeiten ansprechen.
In den Reformschulen, auch in den Waldorfschulen bestimmt die tief eingeprägte Anschauung der »Lernschule« die pädagogische Praxis. Dadurch entsteht oft, trotz anderer Absichten und Ziele, eine Art Erziehungskünstlichkeit im normalen Unterricht, die dann das Bedürfnis nach »wirklichem« Erlebnis bei Schülern und Lehrern weckt. Wie aber kann die alltägliche Schularbeit zum Erlebnis werden?
Wie wird der Schulalltag zum Erlebnis?
Zentral ist die Frage, wie das Verhältnis zwischen Erwachsenem und Kind oder Jugendlichem gestaltet und erlebt wird. Hier geht es um Präsenz, um Geistesgegenwart. Junge Menschen haben ein sehr feines Empfinden dafür, ob ihre »Gegenwart« nur äußerlich geordnet und gelenkt wird oder ob sie wirklich wahrgenommen werden, ob eine Begegnung zwischen Menschen, nicht nur zwischen Rollenträgern stattfindet.
Bei Hospitationen habe ich oft erlebt, wie bei allem fachlichen und methodischen Können des Unterrichtenden Distanz und Unverbindlichkeit die Atmosphäre im Klassenraum bestimmten. Relatives Chaos und Improvisation können bewegtes, beteiligtes Leben bewirken.
Es sind ganz einfache Dinge, die hier eine Rolle spielen. Ich habe zum Beispiel immer vermieden, die Schüler zum Unterrichtsbeginn als Gruppe, gar mit einer Ziffer zu begrüßen, vollends, wenn ich nicht vorher jeden einzelnen begrüßt habe.
Im Stundenverlauf sollte jeder Einzelne angesprochen werden, nicht nur aus disziplinarischen Gründen – dann vielleicht gerade nicht!
Keine Stunde ohne Lachen, ohne Augenblicke des Betroffenseins, ohne völlige Stille, ohne lockere Äußerung. Dieser Wechsel zwischen Äußerung und Innerung, zwischen Zupacken und Loslassen, zwischen Hingabe und Distanz ermöglicht »Erlebnis« auch bei den alltäglichsten Abläufen des Unterrichts. Es ist dies die den Lehrer selbst betreffende Seite des Geschehens, das, was Erziehung zu einer wirklichen Kunst macht, mehr als die Inhalte eines »Faches«.
Vorbildliches Fragen
Es sei hier ein eigenes Unterrichtserlebnis angeführt. Es war dies in den Deutsch- und Geschichtsepochen von Herbert Hahn die Art des Fragens zu den behandelten Ereignissen oder Texten. Nach einiger Zeit des stillen Bedenkens bat er einen bestimmten Schüler um Antwort. Nun kam, oft nach geduldigem Warten des Lehrers und der Klasse, der mehr oder weniger gestotterte Versuch einer Antwort. Sie löste bei Hahn stets freudige Zustimmung aus. Dann griff er eine Formulierung der Antwort auf und »ergänzte« sie, so als wiederhole er Gesagtes, zu einer zutreffenden Aussage, so die Frage klärend und oft zugleich in einen weiteren Zusammenhang stellend. Wir Schüler staunten betroffen über das, was da als unsere Antwort zusammengefasst wurde. Das also steckte in unserem anfänglichen Gestammel, das müsste so gesagt werden! Zutrauen wurde geweckt zu der eigenen Verbindung mit einer Sache. So sind Schauspieler, Philosophen und selbstbewusste Gesprächspartner geboren worden. Wie anders wirkte das, als der Hinweis auf irgendeine Unzulänglichkeit mit der entsprechenden Korrektur.
Der Enthusiasmus des Lehrers
Ein weiterer, stark wirkender Erlebniskatalysator ist die Verbindung des Lehrers mit der Sache. Schüler empfinden genau, ob der Lehrer etwas nur vermittelt oder ob er selbst mit seinem Erleben bei der Sache ist. Freude, Enthusiasmus, eigene Fragehaltung des Lehrers sind für die Intensität des Erlebens beim Schüler wichtiger als der »Stoff«. Gelingt es, Behandeltes mit gegenwärtigen Weltereignissen und mit den inneren Fragen der Jugendlichen zu verbinden, dann ist das »Erlebnisunterricht«. Interessengebiete der Jugendlichen, nicht selten sogar bis zur Wahl eines Studienfachs oder eines Berufs, wurzeln in dieser Erfahrung.
Die Bedeutung von Kunst und Handwerk
In künstlerischen und handwerklichen Fächern werden die Erlebnisqualitäten greifbarer und intensiver geübt, als im betrachtenden Unterricht. Wille und Empfindung verbinden sich unmittelbar mit der »Sache«, mit Holz, Stein, Farbe, Bewegung und so weiter. Die über viele Wochen geübte Tätigkeit in einer Steinhau-Epoche zum Beispiel schult die Erlebnisfähigkeit durch Achtsamkeit, Vorsicht, Material- und Formempfinden, Ausdauer, Zupacken und Distanzieren in einem Prozess, der durch die Wiederholung, durch die geforderte Ausdauer die Verbindung des Jugendlichen mit der Welt intensiviert. Hier bildet sich außer »Herz und Hand« Sinneswahrnehmung, Wachheit und Urteil.
Auf Exkursionen der zwölften Klasse konnte ich immer wieder feststellen, dass Jugendliche, die diese Fähigkeiten nicht erübt haben, kein Auge für Landschaften, für Kunstwerke oder für Besonderheiten der Umgebung besitzen.
Also: Wer nicht Alltägliches ins Erleben bringen kann, nimmt das Besondere gar nicht wahr.
Andererseits gehört es zu meinen erstaunlichsten Erfahrungen, was zehn Tage Steinhauen in Azzano bei Carrara bewirken können: Was danach bei der Exkursion nach Florenz an den Plastiken Michelangelos, an den Gebäuden erlebt, geäußert, diskutiert wurde, bewies in hohem Maße das, was das Wesen menschlichen Erlebens ist: Geistesgegenwart.
Die heutige Lebenswelt erschwert das Erleben
Junge Menschen müssen mit zwei Gegebenheiten unserer heutigen Welt fertig werden. Auf der einen Seite ist alles, was sie umgibt, fertig, perfekt, geregelt, kann bedient, genutzt oder weggeworfen werden. Aber sie können nichts damit »anfangen«, sich auf nichts einlassen. Andererseits werden sie überschüttet mit Eindrücken, die kaum wirklich aufgenommen, geschweige denn erfasst und verdaut werden können.
Und hier wächst der Schule zunehmend eine neue Aufgabe zu: ein Leben zu gestalten, in dem der Mensch sich mit einer realen Welt verbinden kann. Das kann in jeder Rechenstunde geschehen, ebenso wie beim Musizieren oder bei einer Wandertour. Aber auch hier gilt das Grundgesetz des Lebens: im Kleinen wie im Großen das richtige Maß, den gesunden Rhythmus finden.
Zum Autor: Dietrich Esterl, Jahrgang 1934, Studium der Altphilologie, Germanistik, Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie. Von 1963 bis 1999 Lehrer für Deutsch, Geschichte, Latein und Kunstgeschichte an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe, Stuttgart.