Erwarten Sie Wunder!

Thomas Müller-Tiburtius | Sie sind in einem Fischerdorf an der amerikanischen Pazifikküste in den 1950er und -60er Jahren Kind gewesen und weitgehend ohne Unterhaltungsmedien groß geworden. Wie konnte das gelingen, wo doch die USA in technischen Belangen zu dieser Zeit schon sehr weit waren?

Kent Nagano | Morro Bay liegt ziemlich genau in der Mitte zwischen San Francisco und Los Angeles. Die Gegend ist wild, Felsen stürzen an vielen Stellen jäh ins Meer. Der kleine Ort ist von Wasser und Bergen umgeben. Als mein Vater einen Fernseher kaufte, konnten wir kaum Programme sehen. Der Empfang war einfach zu instabil. Aber wir haben das auch nicht vermisst.

TMT | War das Vorbild Ihrer Eltern in punkto Lebensgestaltung für Sie von großer Bedeutung?

KN | Ja, die Künste spielten für meine Eltern eine wichtige Rolle. Sie gehörten zu einer humanistischen Erziehung einfach dazu. Meine Mutter war Biologin und Pianistin, mein Vater Architekt. Das hatte auf uns vier Kinder natürlich großen Einfluss.

TMT | Das Erlernen eines Musikinstruments setzt Durchhaltevermögen voraus. Wie war das bei Ihnen? Warum haben Sie durchgehalten und sind nicht stattdessen zum Wellenreiten an den nahen Strand gegangen?

KN | Für meine Mutter stand das Üben außer Frage. Es war ein Gesetz – darüber wurde überhaupt nicht diskutiert. Genauso wenig, wie wir das Lesen und Schreiben lernen in Frage stellten, kamen wir auch gar nicht auf die Idee, hier zu rebellieren.

TMT | Gibt es Tipps, die Sie Eltern in Bezug auf häusliches Üben geben können?

KN | Ein bisschen sanfter Druck kann nicht schaden. Was heute immer wieder vergessen wird: Können kann befreien – auch wenn es dazu erst einmal einiger elterlicher Stupser bedarf. Ich glaube, wenn Eltern Musik lieben, in Konzerte gehen, ihre Kinder dorthin mitnehmen, vielleicht sogar selbst noch musizieren, dann wird es auch für ihre Kinder vergleichsweise natürlich, ein Instrument zu erlernen und auch zu üben.

TMT | Sie betonen in Ihrem kürzlich erschienenen Buch mehrfach, dass Musik und das Erlernen eines Instruments eine ernste Angelegenheit sei. Kommt bei dieser Sichtweise nicht der Spaß zu kurz?

KN | Nein, das denke ich nicht. Ein Instrument gut zu spielen, macht unglaublich Spaß. Es impliziert aber immer auch die Anstrengung. Denken Sie an eine Bergbesteigung, die Sie mit Ihren Kindern unternehmen. Man geht bergauf, erst haben die Kinder Spaß, dann wird es mühsam, sie murren, mögen vielleicht auch nicht mehr weitergehen. Aber plötzlich sehen sie den Gipfel und fangen an zu laufen. Aus Spaß vielleicht sogar um die Wette. Mit der Musik ist das nicht viel anders.

TMT | Was zeichnet einen guten Lehrer oder eine gute Lehrerin Ihrer Meinung nach aus?

KN | Leidenschaft, die so stark ist, dass man seine Schüler in die Lage versetzen möchte, ebenso tief zu empfinden. Natürlich auch Einfühlungsvermögen und Offenheit.

TMT | Sie beschreiben, wie die Musik in ihrem Fischerdorf Menschen unterschiedlichster Herkunft verbunden hat. War das eine seltene glückliche Fügung oder zeigt sich hier ein allgemeingültiges Integrationsmodell?

KN | Leonard Bernstein, den ich sehr gut kannte, hat einmal einen wunderbaren Satz gesagt: Das schönste Geschenk, das Gott den Menschen gab, ist die Fähigkeit zu kommunizieren. Und ein großer Teil der Kommunikation besteht aus Musik. Musik verbindet, sie ist für die Menschheit gerade in unserer heutigen so zerrissenen Zeit ein unverzichtbares Mittel der Kommunikation weltweit.

TMT | Ihr Engagement gilt vor allem der klassischen Musik. Worin liegt Ihrer Meinung nach ihr besonderer Wert, gerade auch für junge Menschen?

KN | Klassische Musik hat eine unglaubliche Tiefe. Sie ist vielschichtig, komplex, manchmal nicht ganz einfach zugänglich. Sie ist so wie das Leben. Sie verhandelt die Themen, die uns alle beschäftigen: Liebe und Hass, Konflikt, Versöhnung, Leben und Tod.

Junge Menschen ganz behutsam an diese Musik heranzuführen, heißt, sie auf das Leben vorzubereiten. Das Leben ist nicht immer einfach. Aber es kann in seinem Auf und Ab wunderschön sein, so wie die Musik.

TMT | Sie möchten Klassik nicht nur für eine kleine Bildungselite, sondern für die breiten Bevölkerungsschichten. Wie wollen Sie die Bevölkerungskreise erreichen, für die Klassik unbekannt, unbequem oder uninteressant ist?

KN | Man muss die klassische Musik zu den Menschen bringen – zumindest so lange, bis sie zu uns in die Konzertsäle kommen. Und man muss ihnen zeigen, dass diese Musik ihnen etwas zu sagen hat. In Montreal haben wir viele neue Formate dafür entwickelt und an unüblichen Orten gespielt. Es ist harte Arbeit.

Aber man kann Menschen erreichen. Allerdings mache ich hier niemals Kompromisse, ich fordere mein Publikum jedes Mal aufs Neue heraus.

TMT | Sie befürchten einen zunehmenden musikalischen Analphabetismus und Kulturverlust. Nun gibt es kaum etwas, was von jungen Menschen täglich mehr aufgenommen wird als Musik. Hat nicht auch die von den Jugendlichen heute hauptsächlich konsumierte Musik ihren Wert und ihre Bedeutung?

KN | Selbstverständlich – es gibt großartige Unterhaltungsmusik. Und es gibt darunter sicher auch Lieder, die jeder Generation aufs Neue etwas zu sagen haben. Es gibt so viele verschiedene Musik-Genres. Ich bin auf Klassik spezialisiert und davon überzeugt, dass diese große Kunst in dem Erfahrungsspektrum von Kindern und Jugendlichen einfach nicht fehlen sollte.

TMT | Bedauern oder bewundern Sie die Kinder des digitalen Zeitalters?

KN | Weder noch. Aber als Kind meiner Zeit würde ich die Kinder und Jugendlichen von heute sicher beneidet haben. Das digitale Zeitalter vereinfacht den Zugang zur klassischen Musik enorm. Denken Sie nur mal an all die Musikportale, auf denen Sie fast alles an klassischer Musik herunterladen können. Und wenn man einmal schnell hören möchte, wie ein Stück beginnt, dann klickt man sich durch Youtube. Das ist phantastisch.

TMT | Welche Musik wir auch immer bevorzugen: Musikerziehung setzt Musiklehrer voraus, und die gibt es immer weniger. Wie kann man Abhilfe schaffen?

KN | Das funktioniert nur über eine Rückbesinnung auf die immense Bedeutung der Schönen Künste für unser Leben. Sie gehören in unseren Alltag. Das muss wieder zu einem gesellschaftlichen Konsens werden, dem sich auch die Bildungspolitik ernsthaft verpflichtet fühlt.

Die Hochschulen sind voll von Studenten, die begeistert Musikpädagogik studieren und auf nie dagewesenem Niveau musizieren. Es gibt genügend junge begeisterte Musiker, die Lehrer werden würden, wenn es Stellen gäbe. Wenn Politiker etwas dafür täten, unser musikalisches Erziehungssystem wieder zu beleben, wäre schon viel gewonnen.

TMT | Sie sind ein Kritiker der länderübergreifenden Bildungsvergleiche. Was stört Sie an internationalen Schulleistungsuntersuchungen à la Pisa und daraus sich ergebenden Rangtabellen?

KN | Es ist der bornierte Bildungsbegriff, der diesem Konzept zugrunde liegt. Bei Pisa spielen die Künste, Musik, Literatur, Malerei und auch die Sprachen überhaupt keine Rolle. Was ist das für eine Vorstellung von Werten? Wollen wir wirklich einem Kind, das mehr Cello geübt als gerechnet hat und deshalb in Mathematik bei Pisa nicht so gut abschneidet, mit auf den Weg geben, es sei ein Bildungsverlierer? Ich habe nichts gegen ein leistungsorientiertes Bildungsverständnis. Es darf sich nur nicht derart verengen, wie es derzeit weltweit der Fall ist. Das ist gefährlich.

TMT | Was ist Ihrer Meinung nach gute Bildung?

KN | Am Ende die Urteilsfähigkeit eines jeden Menschen. Wenn Sie mich jetzt fragen, wie diese entsteht, dann durch ein umfassendes Bildungskonzept, in dem kognitive Fähigkeiten genauso eine Rolle spielen, wie Empathie und die Fähigkeit zu kommunizieren. Was Sie den Kindern beibringen, um das zu erreichen, wissen Sie selbst sehr genau.

TMT | Wenn Sie sich eine ideale Schule für die Kinder unserer Zeit wünschen könnten, wie sähe diese aus?

KN | Vielleicht so wie meine Grundschule in Morro Bay, in der musiziert und gesungen wurde – allerdings auf ziemlich anspruchsvollem Niveau. Wir mussten uns richtig anstrengen, um eine Beethoven-Sinfonie mit dem Orchester zu spielen. Die Proben und Konzerte sind für mich unvergessliche Gemeinschaftserlebnisse. Lesen, Schreiben, Rechnen, Naturwissenschaften – das alles gehört natürlich auch dazu. Mit der Begeisterung für die Musik lernt sich das andere dann meistens viel leichter.

Literatur: Kent Nagano, Inge Kloepfer: Erwarten Sie Wunder! Expect the Unexpected, Berlin 2014