Erziehung im digitalen Zeitalter

Frank de Vries

Ohne Computer, Smartphone und Internet geht heute gar nichts mehr. Das birgt immense Gefahren, denn bei intensiver Nutzung baut unser Gehirn ab. Kinder und Jugendliche verbringen mit digitalen Medien mehr als doppelt so viel Zeit wie in der Schule. Die Folgen sind Sprach- und Lernstörungen, Aufmerksamkeitsdefizite, Stress, Depressionen und zunehmende Gewaltbereitschaft. Manfred Spitzer fordert eindringlich von Eltern und Pädagogen, den digitalen Zeitvertreib der Kinder und Jugendlichen zu begrenzen, um sie nicht in die digitale Demenz abdriften zu lassen.

Die entscheidende Frage wird sein, wie wir mit dieser Herausforderung in der Erziehung umgehen. Wie kann Schule in der Vermittlung von Wissen und vor allem in der Vermittlung realer Beziehungen zwischen Mensch und Natur und zwischen Mensch und Mensch ihren pädagogischen Auftrag erfüllen?

Die digitale Revolution

Werkzeuge und Maschinen sind eigentlich eine Verlängerung der menschlichen Leiblichkeit. Die Fortschritte der menschlichen Zivilisation werden durch die Entwicklung der Technik abgebildet. Auch die drei großen Schritte der Individuation des Menschen (Gehen, Sprechen und Denken) finden wir in der modernen Technikentwicklung wieder (siehe dazu Hübner 2008). Das Gehen bzw. die Bewegung wurde durch die Dampfmaschine, das Auto und das Flugzeug beschleunigt. Das Sprechen bzw. die Sprache wurde durch das Telefon, das Grammofon und das Radio konserviert. Das Denken bzw. der lebendige Gedanke wurde von der einfachen Rechenmaschine über den Computer in ein mechanisches Regelwerk umgesetzt. Dabei ist der Computer (lat. computare – berechnen) mehr als nur eine Rechenmaschine, alle kausal-logischen Verbindungen können auf den Computer zu einer abstrakt-formalen Aussage umgewandelt werden. Die Computer sind im Internet zu einem »World Wide Web« (www) vernetzt, zu einer Mega-Maschine als Weltgehirn und Weltintelligenz. Der Computer operiert in einem nahezu raum- und zeitlosen untersinnlichen Bereich, die Speicher werden immer größer, die Mikroprozessoren immer kleiner und schneller. Die Arbeitsvorgänge im Computer sind »okkult«, für das menschliche Bewusstsein nicht mehr zugänglich. Es entsteht ein untersinnliches Abbild des menschlichen Denkens.

Denken und Gedächtnis

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nochmals neu, welche spirituelle Dimension die Digitalisierung für die seelisch-geistige Entwicklung des Menschen hat. Wie werden die leibgebundenen Lebens- und Lernprozesse in die seelisch-geistigen Entwicklungsprozesse hinübergeführt?

Für die meisten Neurowissenschaftler heute ist das Gehirn das physische Instrument des Denkens und der Erinnerung, in dem sich auch qualitativ Wissensinhalte, Emotionen und ethische Werte lokalisieren lassen. Für Rudolf Steiner hat das Gehirn dagegen auch eine seelische und eine geistige Dimension, die weit über die gehirnphysiologischen Vorgänge hinausführen. Für ihn ist das Gehirn vor allem ein Instrument des Geistes. Beim Gedächtnis vergleicht Rudolf Steiner das Erinnern mit einem Aufwach-, das Vergessen mit einem Einschlafprozess. Was erinnert wird, sind nicht die Vorstellungsinhalte oder Begriffe, sondern die mit ihnen verknüpften seelisch-bildhaften Erlebnisse: Gefühlsregungen, Spannungen oder Stimmungen, die sich in der Gesamtkonstitution des Menschen eingeschrieben haben. Die Gedächtnisinhalte werden über das Gefühl und den Willen wieder hervorgeholt, nicht durch verstandesmäßige Gedächtnisübungen.

Der Computer ist eine Wunschmaschine. Internet und Computerspiele haben eine hypnotische Faszination. Die Spiele wirken wie eine Droge, sie lenken von den Alltagsproblemen ab und führen in eine soziale Isolation. Dabei befindet sich der Spieler in einer virtuellen Welt mit eigenen Raum- und Zeitbegriffen. Beim Spielen wird der Spieler mit der Maschine zu einer Einheit. Der Wille wird von der Maschine bestimmt. Es tritt ein Zustand jenseits des Denkens ein und jenseits des Ichs. Das Computerspiel wird zu einer untersinnlichen Meditation. Der Computer wird zu einem Projektionsmedium für geistig-seelische Vorgänge im Menschen, er wird zum technischen Doppelgänger des Menschen, zum zweiten Ich.

Persönlichkeit und Individualität

Rudolf Steiner beschreibt in seinem Buch »Theosopie« das Ich als den wahren Wesenskern und das höchste Wesensglied des Menschen: »Und dieses ›Ich‹ ist der Mensch selbst. Das berechtigt ihn, dieses ›Ich‹ als seine wahre Wesenheit anzusehen. Er darf deshalb seinen Leib und seine Seele als die ›Hüllen‹ bezeichnen, innerhalb derer er lebt; und er darf sie als leibliche Bedingungen bezeichnen, durch die er wirkt.« (Steiner 1904, GA 9, S. 49)

In »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten« wird von Rudolf Steiner die »wahre Wesenheit« des Menschen näher beschrieben. Er unterscheidet zwischen einem »niederen Selbst« und einem »höheren Selbst«. Das höhere Selbst hat seine Heimat in der geistigen Welt. Die Entwicklungsaufgabe des Menschen besteht darin, sich zu seinem eigentlichen Wesen hindurchzuarbeiten. Das höhere Selbst, das bisher keimhaft, unbewusst im Menschen geschlummert hat, wird zu bewusstem Dasein geboren.

Was hier als »niederes« und »höheres Selbst« unterschieden wird, erfährt in den nachfolgenden Vorträgen Rudolf Steiners, eine eingehende Ausgestaltung und Erklärung. Das »niedere Selbst« wird nun oft als »Persönlichkeit« bezeichnet, das »höhere« als »Individualität«. (vgl. dazu Dietz 2005)

Die Entwicklung von Persönlichkeit und Individualität in ihrer historischen Dimension wird von Rudolf Steiner an verschiedenen Stellen immer wieder thematisiert.

In der Antike und im Mittelalter war es zunächst die Aufgabe des Menschen, seine Persönlichkeit zu entwickeln. Das war für diese Zeit angemessen und richtig, hatte aber die Folge, dass der Mensch das Bewusstsein seiner geistigen Heimat verlor. Der Verlust des Geistbewusstseins führte zur irdischen Selbstständigkeit des Menschen. Heute aber, im Zeitalter der »Bewusstseinsseele«, muss die Verbindung mit der geistigen Welt wieder hergestellt werden, ohne die in der Vergangenheit errungene Eigenständigkeit der Persönlichkeit zu verlieren.

Im Zeitalter der Bewusstseinsseele ist der Mensch ein Grenzgänger. Er gewinnt die volle Individualität und muss aus eigener Vollkommenheit sein eigenes Leben und die Welt gestalten. Er hat sich von der göttlichen Welt emanzipiert, stößt jedoch an Erkenntnisgrenzen. Er ist aufgefordert diese Erkenntnisgrenzen zu überwinden. Der Kern der Persönlichkeit, das Ich des Menschen, ist in dieser Entwicklung der Selbstfindung, der Individuation des Menschen, noch ein »zartes Pflänzchen«, wie Jacques Lusseyran in seiner Schrift »Gegen die Verschmutzung des Ich« feststellt. Überall stoßen wir an unsere Grenzen, sind in Gefahr, dieses jüngste Glied unserer Menschwerdung zu verlieren. Überall lauern die Widersachermächte, die versuchen, durch Drogen und virtuelle Welten die Sehnsucht des Menschen zu befriedigen; solche Wege der Bewusstseinserweiterung werden durch den Verlust der Ich-Entwicklung erkauft.

Michaels Kampf gegen den Drachen

Die virtuelle Welt ist die Widerspiegelung eines geistig-seelischen Raumes. Die digitale Technik ist ein Zerrbild von übersinnlichen Erfahrungen und Fähigkeiten. Im täglichen Sprachgebrauch wird die Mensch-Maschine-Metapher erschreckende Wirklichkeit, das Gedächtnis wird zum »Speicher«, das Denken wird »programmiert«. Die höchsten menschlichen Fähigkeiten werden angeblich durch die »künstliche Intelligenz« übertroffen, der Mensch ist die »schlechtere« Maschine. Die Triebkräfte der Technik sind herabgesunkene Kräfte, die den Weg in die geistige Welt auf materiellem Wege suchen. Die Technik gilt als Heilsbringer der Menschheit und Gott einer neuen Kirche. Die Technologie ist verbunden mit einer tiefreligiösen materialistischen Göttervision und ist zum Religionsersatz geworden.

Wie in »Brave New World« von Aldous Huxley verspricht auch der Zukunftsforscher Ray Kurzweil in seinem 2005 erschienenen Hauptwerk »The Singularity is Near«: »Alle Dinge, die Ihnen heute Freude machen, werden in der Zukunft noch schöner, noch intensiver sein. Wir werden intelligenter, kreativer und liebevoller sein, Musik noch mehr genießen können, mehr Humor haben und gesünder sein. Und die Probleme lösen, mit denen wir heute kämpfen.« (Kurzweil 2005)

Mit dem Begriff »Singularity« ist der Zeitpunkt gemeint, da die Maschinenintelligenz die Intelligenz der Menschen erstmals übersteigt. Wenn es soweit ist, werden die superintelligenten Maschinen die Entwicklung noch leistungsfähigerer Maschinen übernehmen und eine Art Kettenreaktion sich selbst beschleunigender technologischer Innovation entfesseln, die unser Leben irreversibel und in nicht absehbarem Ausmaß verändern wird. Am fundamentalsten werden dabei zwei Aspekte sein: die Verschmelzung des menschlichen Gehirns mit der zu immer größere leistungsfähigere Maschinenintelligenz und das Ende des körperlichen Verfalls dank der mikroskopischen Nanoroboter, die unsere Körper von innen laufend regenerieren sollen. Drei bislang noch getrennte Technologiefelder … die Genetik, die Nanotechnologie und die künstliche Intelligenz – werden in ein Zusammenspiel eintreten, so Ray Kurzweils frohe Botschaft!

Rudolf Steiner beschreibt die so entstehende Sub-Realität oder Unter-Natur als geistige Gegenmächte, die dieses Geschehen offenbar dem Blick beziehungsweise dem Bewusstsein der Menschen entziehen wollen. Seit im Jahr 1879 das Michael-Zeitalter begann, befinden sich die von Michael besiegten »Geister der Finsternis« nicht in irgendeinem Himmel, sondern mitten unter den Menschen. Ihre hohe Intelligenz setzen sie ein in allem, was durch Technik vermittelt wird. Deshalb mahnt Steiner: Wir müssen, um dem standzuhalten, was uns in die Unternatur hinunterziehen will, uns in die Übernatur hinaufbegeben.

Der Umgang mit der Technik macht eine spirituelle Entwicklung als Gegengewicht notwendig. Es handelt sich dabei um den michaelischen Kampf mit dem Drachen. Die Sub-Realität oder die Unter-Natur kann nur siegen, wenn sie nicht erkannt wird. Sie wirklich erkennen, heißt aber, Intellektualität zur Spiritualität umbilden.

Medienkompetenz

In vielen Veröffentlichungen wird gefordert, dass die Kinder schon möglichst früh mit den Medien vertraut gemacht werden sollen. So verständlich diese Forderung zunächst scheint, so falsch ist sie nach der Erfahrung vieler Medienpädagogen unserer Zeit. Der Medienpädagoge Uwe Buermann plädiert sogar für eine medienfreie Kindheit. Auch Paula Bleckmann kommt in ihrem neu erschienenen Buch »Medien-mündig« zu dem Ergebnis, dass gerade durch das frühkindliche Aufwachsen in weitestgehend medienfreien Spielräumen sich eine belastungsfähige Grundlage bildet, auf der die spätere Medienmündigkeit erwächst. Sie argumentiert konsequent von der kindlichen Entwicklung aus und fragt, was Kinder brauchen, damit sie später als Jugendliche und Erwachsene die innere Stärke haben, selbstbestimmt Medien aller Art sinnvoll zu nutzen.

Wir werden lernen müssen, die neuen Medien nicht nur zu gebrauchen, sondern vor allem, zu durchschauen, wie die Medien uns gebrauchen bzw. unser Bewusstsein manipulieren, wie Heinz Buddemeier in seinem Buch »Illusion und Manipulation« darstellt. Die Waldorfschulen gehören zu den wenigen Schulen, die nicht uneingeschränkt die Forderung nach Computern in den Schulen unterstützen und vor allem schon ein Curriculum entwickelt haben, das den verantwortungsvollen Umgang mit Computern ermöglicht (siehe dazu Hübner 2001)!

In der Waldorfschule werden die Grundlagen zur Medienmündigkeit in der Unterstufe durch das Lernen mit allen Sinnen mit viel Kunst, Handwerk, Bewegung und Musik angelegt. Der Unterricht für Kopf, Herz und Hand in Verbindung mit Wissenschaft, Kunst und Handwerk führt zum umfassenden Wissen und Können in Wertschätzung und Ehrfurcht gegenüber der Natur und dem Mitmenschen. Gerade die Ziele, Werte und Grundlagen der Waldorfpädagogik führen zur Entfaltung der eigenständigen Persönlichkeit, die im verantwortlichen Umgang mit den Medien in unserer Zeit Voraussetzung ist. Rudolf Steiners Forderung nach einem lebendigen Denken als Zielsetzung für die Pädagogik der Gegenwart wird z.B. in der Eurythmie durch eine Spiritualisierung der Sprache oder in den Naturwissenschaften durch eine phänomenologische Betrachtungsweise umgesetzt. Eine solche Erweiterung im imaginativen, inspirativen und intuitiven Denken führt im Zeitalter der Bewusstseinsseele zu wachem Wahrnehmen, zu klarem Denken, zu eigenständigem Empfinden und Beurteilen und zu tatkräftigem und verantwortlichem Handeln und vor allem zu einer angemessenen Erkenntnishaltung im digitalen Zeitalter.

Literaturhinweise:

Bleckmann, P.: Medien-mündig. Wie unsere Kinder selbstbestimmt mit dem Bildschirm umgehen lernen, Stuttgart 2012

Buddemeier, H.: Illusion und Manipulation. Die Wirkung von Film und Fernsehen auf Individuum und Gesellschaft, Stuttgart 1987

Buermann, U.: Künstliche Welten- wirkliche Bilder. Vom Umgang mit den Medien, Heidelberg 2005

Hübner, E.: Mit Computern leben, Kinder erziehen- Zukunft gestalten, Stuttgart 2001

Hübner, E.: Imaginationen im virtuellen Raum: Technik und Spiritualität - Chancen eines neuen Jahrhunderts, Frankfurt am M. 2008

Kurzweil, R.: The Singularity is Near. When Humans Transcend Biology, London 2005

Spitzer, M.: Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen, München 2012